Zum Beitrag: Situation der RentnerInnen in Europa

Zum Beitrag Europawahl 2024 vom 1.4.24

 

Hans-Henning Adler
(Bündnis Sahra Wagenknecht, Oldenburg)

Debattenbeitrag: Eine linke Antwort zur Rentenfrage

Das Bundessozialministerium veröffentlichte auf Anfrage des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) die Statistiken. Die Zahlen haben es in sich! Im Jahr 2009 lagen die Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung bei 10,1 Prozent des Bruttoinlandproduktes (BIP). Im Jahr 2022 waren es nur noch 9,3 Prozent. Auch die Zuschüsse des Bundes in die Rentenkasse nahmen im Verhältnis ab: 2009 waren es 3,3 Prozent des Bruttoinlandproduktes, 2022 dagegen lediglich noch 2,8 Prozent. Der Bundeszuschuss sollte deshalb angemessen erhöht werden. Noch viel mehr brächte aber ein Blick nach Österreich: Statt die Rente teilweise an die Börse zu bringen und damit unkalkulierbaren Risiken auszusetzen, wie es die gegenwärtige Bundesregierung mit ihrer Aktienrente vorhat, sollte das österreichische Modell als Vorbild genommen werden. Dort werden im Schnitt 800 Euro höhere Renten gezahlt, weil alle in die Rentenkasse einzahlen außer Arbeitnehmern auch Selbstständige, Leute, die nur vom Kapital leben, gewerbsmäßige Vermieter, Beamte und Abgeordnete. Durch dieses solidarische System ist eine auskömmliche Rente für alle finanzierbar.

 

Helmuth
(parteilos)

Antwort Debattenbeitrag: Eine linke Antwort zur Rentenfrage bedarf mehr als einen prozentualen Zuschlag je Rentenempfängerin:

Die Gemeinsamkeiten zuerst: Tatsächlich deutet sich an, dass die aktuelle ökonomische Krise stark auf die RentnerInnen (weniger auf die PensionerInnen) abgewälzt wird. Z.B. gibt es keinen Inflationsausgleich für diese Gruppe, obwohl die wesentlichen Inflationstreiber, Energie und Nahrung, den Kern ihrer Haushaltsausgaben ausmachen. Weiter steigen die Pflegekosten deutlich schneller als die Ausgaben der Pflegeversicherung. Leider müssen wir vermuten, dass dies eine europaweite Tendenz ist, die in vielen anderen Ländern noch deutlich bedrohlicher ist als in Deutschland wegen der dort höheren Preissteigerung bei den Nahrungsmitteln und der Migration von Pflegekräften.
Konsens besteht mit Henning Adler auch für einen Teil der Lösung: Aufhebung der Trennung der Renten und Pensionen, gemeinsame Rentenkasse für alle, keine Experimente am Aktienmarkt.

Weniger Einheit besteht in der Einschätzung des Rentensystems in Österreich. Denn die Rentenzahlungen dort weisen die vierthöchste Differenz zwischen den Geschlechtern auf (37.8 % Differenz in der Rentenhöhe). Das liegt an der dortigen Berechnung der Renten: Nach 45 Jahren Einzahlungen gibt es ab dem Alter von 65 Jahren 80 % des vorherigen Einkommens. Da Frauen weniger verdienen, niedrige Jobpositionen erreichen, bekommen dementsprechend auch weniger Rente. Rentner in Österreich haben zudem ein fast 3mal so hohes Risiko ab dem Alter von 65 Jahren in Arbeit zu sein und in Armut zu leben.

Das zusammen führt dazu, dass der Verweis auf Österreich keine Antwort auf Fragen ist, die von linker Seite eigentlich gestellt und beantwortet werden müssten: Ist es gerecht, dass die gesellschaftliche Ungleichheit durch verschiedene Lohnhöhen genauso stark weiter besteht, wenn die Menschen nicht mehr arbeiten? Oder sollte es ab diesem Zeitpunkt nicht zu einer deutlichen Angleichung der Einkommen kommen, denn gearbeitet wird ja nicht mehr? Inwiefern sind überhaupt innerhalb einer linken Debatte die Lohneinkommen der richtige Maßstab für die Rentenhöhe und nicht eher, in seinem Leben wieviel gesellschaftlich notwendige Arbeit (inklusive Kindererziehung etc.) geleistet zu haben? Und wie bleiben RentnerInnen maximal lange gesellschaftlich integriert, d.h. entkommen einem Gefühl von Einsamkeit, Bedeutungslosigkeit, technischem Abgehängtseins? Letztendlich was bedeutet Freiheit, Gleichheit, Fürsorge und Kooperation im Alter angesichts schwindender körperlicher und irgendwann dann auch geistiger Fähigkeiten für die Gestaltung des gesellschaftlichen Alltags in einer humaneren Gesellschaft? Erst dies wäre eine linke Antwort zur Rentenfrage, nicht ihre Reduktion auf ein nur im Schnitt höheres, aber deutlich ungleiches und zudem rein auf Deutschland bezogenes Einkommen wie in dem Debattenbeitrag von Henning.

-------------------------------------------------------------------------------------------

Eine unpolitische Europa-Akklamation hilft nicht weiter

Hans-Henning Adler (Bündnis Sahra Wagenknecht Oldenburg)

Eine_Antwort (zum Text von Henning findet sich per Klick vorne)

 

Auf der Homepage des Linken Forums steht der Satz:

„Also Grenzen zwischen den Ländern noch stärker einreißen – nicht nur Freiheit und Gleichheit für Waren, was die jetzigen Probleme mit der EU einbringt.“ Und in der Überschrift heißt es:

„Europawahl 2024: Leben ohne Grenzen und ohne Nationalismus und Kriege - darum geht es, aber nicht nur“

Das kann man so lesen oder missverstehen: Je stärker die Regelungen auf nationaler Ebene zurückgedrängt werden, und je mehr auf europäischer Ebene geregelt wird, um so besser. Hier wird die Europäische Integration zum Fortschritt an sich, unabhängig davon, was auf europäischer Ebene geregelt wird. Die sozialen Forderungen kommen als Anhängsel hinten dran („nicht nur“)

Die Debatte ist nicht neu: Marx und Engels hatten im Kommunistischen Manifest geschrieben, dass erst mit dem Gegensatz der Klassen im innerem der Nation die feindliche Stellung der Nationen gegeneinander fällt. Und Lenin schlussfolgert 1915, dass die Losung  der Vereinigten Staaten von Europa unter kapitalistischen Verhältnissen entweder unmöglich oder reaktionär“ ist.(LW 21,342).

Wenn eine auf nationaler Ebene erkämpfte soziale Errungenschaft z.B. gegen die Dienstleistungsrichtlinie der EU oder gegen andere in den EU-Verträgen festgeschriebene neoliberale Regelungen verteidigt werden soll, ist das keine nationalistische Politik.

Wenn wir die Aufrüstungsverpflichtung im Lissabon-Vertrag kritisieren, wollen wir das souveräne Recht jedes EU-Mitgliedes wahren, selbst zu entscheiden, wie viel Geld für den Verteidigungs-Etat ausgegeben wird. Wir wenden uns ja auch dagegen, dass die NATO verbindlich Rüstungsausgaben in Höhe von 2% des BIP vorschreiben will.

 Das Verhältnis zur EU sollte politisch bestimmt werden.  Eine Stärkung europäischer Kompetenzen sollte deshalb an Bedingungen geknüpft werden. Im EU-Wahlprogramm des BSW stehen solche Bedingungen z.B.:

Sozialen Fortschritt statt Sozialdumping: In den EU-Verträgen muss eine soziale Fortschrittsklausel verankert werden, die den Vorrang der sozialen Grundrechte vor den Binnenmarktfreiheiten (Waren, Arbeitskräfte, Dienstleistungen und Kapital) festschreibt. Die Fortschrittsklausel sichert nationale Handlungsspielräume in der Arbeits- und Sozialpolitik und gibt den Mitgliedstaaten Rechtssicherheit...Spätestens bis Ende 2024 muss die EU-Mindestlohn- Richtlinie umgesetzt sein.. erreichen... Dies würde in Deutschland einem Mindestlohn von 14 Euro entsprechen. Und weiter:  Daseinsvorsorge in öffentliche Hand: Wir wollen öffentliche, gemeinwohlorientierte Dienste stärken und die Privatisierung und Kommerzialisierung existenzieller Dienstleistungen wie Wohnen, Wasser- und Energieversorgung stoppen. Auch ein wohnortnahes Gesundheitswesen und Mobilitätsangebote müssen frei von dem Druck arbeiten können, Rendite erwirtschaften zu müssen….Die Bundesregierung muss in Europa endlich die Einführung einer echten Finanztransaktionssteuer in einer Gruppe williger Staaten vorantreiben, um Spekulation wie den Hochfrequenzhandel und gefährliche Finanzwetten mit Derivaten einzuschränken.

Ein Europa „ohne Grenzen“ ist deshalb eine Vision und keine Frage, die im aktuellen EU-Wahlkampf eine Rolle spielt. Kein Mitglied der EU will Grenzen abschaffen. Debattiert wird allenfalls, wie viele nationale Rechte an EU-Institutionen abgegeben werden sollen und da sollte man vorsichtig sein. Gegenwärtig geht es darum soziale Rechte zu verteidigen und Widerstand gegen die Militarisierungs- und Aufrüstungsbestrebungen der EU zu entwickeln.

 

 

Antwort Helmuth und Achim (beide parteilos):

Ein strategischer Nationalismus ist keine Basis für linke Politik

Wir bedanken uns für diesen Debattenbeitrag und wünschten uns weitere! Hier unsere Antwort:

1.      Henning Adler (BSW) behauptet, die Frage Nationalstaatlichkeit ist der sozialen Frage nachgeordnet und beruft sich damit auf u.a. Karl Marx. Als dieser seinen zitierten Satz schrieb bestand Deutschland aus in Abbildung 1 wiedergegebenen Kleinstaaten. 

     Dies allein macht deutlich, dass eine einfache Verlängerung der damaligen These wenig bedeutsam ist. Das Zitat von Lenin stammt aus dem Jahr 1915, geschrieben vermutlich noch 1914, d.h. vor der Explosion des 1. Weltkriegs und deutlich vor dem Ausbruch des 2. Weltkriegs. Wenn man sich auf Marx beruft, muss man auch über Produktivkräfte nachdenken. Im Jahr 1845 im deutschen Bund 1.400 Streckenkilometer Eisenbahn, die Reisegeschwindigkeiten betrugen 30 bis 35 km/h. Die heutigen Züge fahren teilweise mit über 200 km/h, Flugzeuge sind natürlich noch viel schneller. Telefone gab es allgemein gesellschaftlich auch zur Zeit von Lenins Zitat noch nicht, die Möglichkeit der Kommunikation über Strecken war begrenzt. Heute sind Videokonferenzen über den Gesamterdball selbstverständlich. Soll sagen: Die Überwindung nationalstaatlicher Grenzen (durch die EU) ist nicht nur ein politischer Erfolg und eine weiter bestehende Aufgabe, denn sie verhindert unmittelbar erneute Kriege und die Unterdrückung der einen nationalstaatlichen Bevölkerung durch die Regierung und das Kapital der anderen. Deswegen sind wir für die weitere Abschaffung solcher Grenzen. Sie ist auch einfach ein Zeichen von Mobilität und Kommunikation, sich ihr in den Weg stellen zu wollen, heißt sich außerhalb der Entwicklung stellen zu wollen. Die Feststellung, dass kein Mitglied der EU Grenzen abschaffen will (siehe unten in Hennings Text), ist nicht nur deshalb argumentativ wenig überzeugend. Auch die gesamte Aufzählung dessen, was das BSW fordert (wir sind ein wenig unangenehm berührt, dass fast 1/3 des Debattenbeitrags aus kopierten Stellen des BSW Programms beruht) wird von keinem Mitglied der EU gewollt. Wo ist dann das Argument?

2.      Henning fordert auf ein taktisches Verhältnis zur EU zu entwickeln und dieses rein aufgrund der erreichten sozialen Errungenschaften in einem Land zu bestimmen. Hier liegt ein doppeltes Missverständnis vor. Erstens ist ein großes Problem der aktuellen EU-Verträge, dass auf dieser Ebene gerade nicht über sozialstaatliche Maßnahmen bestimmt werden kann. Grenzenlos ist der Austausch von Waren in der EU, nicht die Bestimmungen zu Arbeitszeiten, Mitbestimmung, Schul- und Berufsausbildung usw. Insofern sind die Mängel im sozialen Bereich gerade den nationalstaatlichen Regierungen zuzuschreiben. Diese Mängel abzuschaffen und ihren Gehalt auf ein menschliches Niveau anzuheben, ist die wichtigste Aufgabe dessen, was wir als sich links fühlende Menschen erreichen wollen. Um Menschen in ganz Europa freier zu machen (von ökonomischen Zwängen), gleicher werden zu lassen (gegen Reichtum auf der einen Seite und Armut auf der anderen), Sicherheit und soziales Bewusstsein zu geben (als wechselseitige Fürsorge) und zu Kooperation zu befähigen (gegen die Verwaltung und Beorderung von oben, ob im Betrieb oder in Institutionen). Im Gegensatz zu Henning sind wir der Meinung, dass genau diese Fragen im EU-Wahlkampf die zentrale Rolle spielen sollten und in den Köpfen der Menschen vermutlich viel stärker zählen als die Aufzählungen von Forderungen wie die des BSW.

3.      Henning argumentiert aus der Position eines national „besseren“ Standpunkts gegen die Orientierung auf einen international-europäisch schlechteren Standpunkts und betont die Verteidigung von sozialen Errungenschaften. Diese ganze Behauptung ist logisch nicht haltbar. Erstens ist die Militarisierung in Deutschland mit einem Grundgesetz Fond von 100 Mrd. schon viel weiter fortgeschritten als in der EU. Würde man seinem rein taktischen Argument folgen, dann wäre gerade die EU gegen die deutsche Regierung zu verteidigen. Zweitens: Verallgemeinerte man sein Argument, dann sollte jede Gemeinde, die fortschrittlicher ist, gegen die Vereinnahmung durch die nationale Regierung verteidigt werden, was programmatisch natürlich keinen Sinn macht. Aus dem ganzen Argument folgt nur eines: linke Politik kämpft auf allen Ebenen für ihre Prinzipien: maximal erreichbare Freiheit, Gleichheit, Fürsorge und Kooperation. Und je weniger nationale Grenzen, um so mehr Menschen können daran partizipieren.