Debatte zwischen Horst und Helmuth

Drei Diagramme zum Rentenwert, Inflation und Bruttolohnhöhe als Hintergrund für diese Debatte findet man hier

Horst: 

Hallo Helmuth: Ich habe da jetzt mal was aufgeschrieben, um eure Vorschläge für Grundzüge einer linken Position zur Rentenfrage näher zu klären. Speziell geht es dabei auch darum, ob wir uns also linke Bewegung eher auf ein Prinzip der Gleichheit konzentrieren sollten oder - wie in dem Text auf der Webseite beschrieben - von vier Prinzipien der Freiheit, Gleichheit, Fürsorge und Kooperation leiten lassen sollten. Ich werde ein Prinzip verteidigen, das der Gleichheit.

Erste Klärung: Was ist »die Rente«? Eine Form der Alterssicherung, die eng mit der Lohnarbeit verknüpft ist, also altersbedingte Freistellung vom Zwang, zwecks Reproduktion die eigene Arbeitskraft, sprich die Verfügung über den eigenen Körper, zu verkaufen (präziser: zu vermieten), also von der Vermarktlichung der Arbeitskraft.

Zweite Klärung: Die Mythen. Daran - an die Vermarktlichung - rankt sich der Mythos, man habe sich durch harte Arbeit und Fügsamkeit die Rente - ein »sorgenfreies« Alter - individuell verdient. Die ursprüngliche Invalidenversicherung zur allgemeinen Alterssicherung für Arbeiter und Angestellte ausgebaut zu haben, ist ein Resultat von Klassenkämpfen und -kompromissen. Und ebenso, dass seit 1957 die »Lebensstandardsicherung« und die Teilhabe im Produktivitätswachstum als Grundsätze der Rentenanpassungen gelten. 

Der zweite Mythos der gesetzlichen Rente resultiert aus den individualisierten Beiträgen: Es scheint, als baue man einen individuellen Kapitalstock auf (wie in einer Kapitallebensversicherung), doch tatsächlich finanzieren im Umlageverfahren die aktuellen Beiträge nur die aktuellen Renten und man erwirbt politisch garantierte eigentumsähnliche Ansprüche auf einen entsprechenden Anteil aus dem zukünftigen Sozialprodukt.

Schließlich drittens basiert das ganze System auf den Löhnen (Gehältern), bildet also die Position in der Lohnhierarchie ab, wodurch die Rente als Anerkennung einer Lebensleistung erscheint, als Ausdruck der erreichten sozialen Position in der Arbeits-Leistungsgesellschaft. Während der zweite Punkt kaum im Alltagsbewusstsein präsent ist. gehören die Punkte eins und drei zu festen, unverbrüchlichen Bestandteilen des Alltagsbewusstseins, also so etwas wie Ausgangs-Realitäten politischen Handelns.

Helmuth:

Hallo Horst, danke für diese Hinweise und den Einstieg in diese Debatte. Hinsichtlich dessen, was du oben schreibst, würde ich argumentieren, dass der Unterschied zwischen täglicher Arbeitszeit und lebenslanger Arbeitszeit partiell ist. Der Wert der Ware Arbeitskraft teilt sich in mehrere verschiedenen Teile: Zeiten für das Aufwachsen, Bildung und Ausbildungszeiten, Arbeit und Freizeit und Zeit als RentnerInnen. Dann unterscheidet sich die Zeit als RentnerIn nur begrenzt von den anderen Lebenszeiten. Unter einer lebenszeitlichen Perspektive bedeutet der Erwerb von Rentenansprüchen nichts anderes als den Verzicht auf bestimmte Anteile der investierten Arbeitszeit zugunsten einer Auszahlung dieser Arbeitszeit in der Zukunft auf der Höhe der dann vorhandenen Produktivität.

Horst:

Ich komme darauf zurück. Erstmal eine Bemerkung dazu, was linke Politik ändern will, genauer: was sie hoffen darf, ändern zu können. Unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit sind m. E. zwei Punkte zentral: Die bestehende Kopplung an die Lohnhöhe bzw. das Lohnsystem widerspricht dem Gleichheitsprinzip insofern, als es dem Bedarfsprinzip nicht gerecht wird, welches der Alterssicherung immanent ist (Wenn mensch nicht mehr arbeiten muss/soll, müssen seine menschlichen Bedürfnisse anderweitig gesichert werden.). Dafür wurde die Mindestrente bzw. die Grundsicherung im Alter geschaffen. Aus linker Sicht müsste man aber sagen: Die kapitalistische Produktivkraftentwicklung hat es ermöglicht, die »notwendige Arbeit« zu reduzieren und »frei verfügbare Zeit« für die Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten/der Fähigkeiten der Menschheit (Grundrisse) zu schaffen, also nicht mehr (nur) Arbeiter sein zu müssen. Die Rente ist eine (nicht sehr gerechte) Form dieser Freiheit von den Notwendigkeiten der individuellen und gesellschaftlichen Reproduktion.

Helmuth:

Das sehe ich gemäß meinen Anmerkungen oben anders, wobei ich die allgemeine Aussage teilen würde, der Zwang zur Arbeit ist durch die Produktivkraftentwicklung deutlich geringer geworden. Dafür ist aber, glaube ich, der Zwang zur Ausbildung und inneren Disziplinierung als Element von Ausbildung gestiegen.

Horst:

Damit geht der Status des Lohnarbeiters potentiell über in den Status des gesellschaftlichen Bürgers bzw. des citoyen, der an der demokratischen Regulation teilhat. Ergo muss der Status als Bürger, der seinen Pflichten als Bürger nachkommen können soll, gesichert werden - etwas, was für alle unabhängig von ihrem vorherigen sozialen Status gelten soll/muss. Also wird man darüber reden müssen, was dazu gehört und in welcher Form - als freie Zugänge, als commons, als individualisiertes Einkommen - das realisiert werden soll. (Gleichheit setzt voraus, dass alle gleichen und freien Zugang und gleiches Gewicht bei Entscheidungen haben, die alle bzw. sie betreffen.) 

Helmuth:

Aus meiner Sicht ist dies keine Frage von Gleichheit, sondern von Fürsorge. Und eine Frage, dass es darum geht, möglichst lange frei kooperieren zu können. Gleichheit ergibt aus meiner Sicht kein Argument für Grundsicherung, Fürsorge schon.

Horst:

 Ohne jetzt die Wirklichkeit des Schweizer Rentensystems schönreden zu wollen, finde ich dessen Grundgedanken aus drei Säulen für einen Transformationspfad bedenkenswert: eine verpflichtende Beitragszahlung für alle Staatsbürger mit daraus resultierenden Altersansprüchen (die, wenn man wollte, z.T. erfüllt werden können durch öffentliche Dienstleistungen - Gesundheit, Pflege, Information usw.), eine Art obligatorische betriebliche Alterssicherung, in die Arbeitgeber und Arbeitnehmer einzahlen, und eine freiwillige private Säule, die nicht mehr staatlich garantiert ist.

Helmuth:

Diese Perspektive teile ich, aber eben wegen der gleichen Pflicht, einer Fürsorge und einem Bereich des Commons, der, soweit es geht, auch als Form der Kooperation geregelt werden sollte. Die Möglichkeit des privaten Ansparens sehe ich auch so, haben wir ja auch so geschrieben. 

Horst:

Warum diese Suche nach Übergängen? Weil linke Politik, die Gleichheit als Fluchtpunkt nimmt, auch »opportunistisch« sein sollte, d. h. Hebel dort ansetzen, wie sie die beste Wirkung versprechen. Der Gedanke, dass Alterssicherung eine kollektive Leistung (und keine individuelle Ansparleistung) ist, wird nicht im bestehenden System wachsen, sondern wird ins System hineinwachsen müssen, indem er sich im Erwerbsleben bewährt. D. h. durch commons usw., die bereits im Erwerbsleben wirken, unverbrüchlich dazugehören. Durch eine Neubewertung von Tätigkeiten außerhalb des Marktes für Arbeitskraft (gesellschaftlich nützliche Tätigkeiten). Durch eine Begrenzung der Lohnunterschiede usw. usf. Das Rentensystem kann vermutlich aus politischen Gründen nur abbilden, was sich zuvor in der Gesellschaft verändert hat, es kann nicht Avantgarde der Veränderung sein. Es gibt ein paar Stellschrauben, an denen gedreht werden kann, wie zum Beispiel die Beitragsbemessungsgrenze, dann nicht linear wachsende Ansprüche, Berücksichtigung von gesellschaftlichen Tätigkeiten (»Ehrenamt«, Kindererziehung) usw., Ausbau in Richtung einer Bürgerinnenversicherung. 

Helmuth:

Hier, glaube ich, besteht etwas Dissens: gerade wegen des fundamentalen Prinzips der Gleichheit sollte gleiche Arbeitszeit wenigstens annähernd auch gleiche Rechte generieren. Niemand kann es vorgeworfen werden, weniger verdient zu haben bei gleicher Arbeitszeit, wenn der Unterschied der Leistung wegfällt. Das geht über eine Angleichung der Lohnhöhen hinaus und aus meiner linken Perspektive folgt daraus, dass die Menschen in ihrem Leben gleicher werden sollten, wenn sie in einer vernünftigen Gesellschaft leben, und nicht noch ungleicher.

Horst:

Schließlich die Finanzierungsseite. Die Finanzierung über Lohnbeiträge folgt der Annahme, dass paritätische Beiträge zu einer Versicherungsleistung stärker vor dem politischen Zugriff geschützt sind als Steuern. Ja, stimmt, verfassungsrechtlich usw., hat aber auch Löcher. Man könnte also auf eine andere Finanzierung abstellen und damit schrittweise die Lohnillusion aufweichen: Z. B. ein bestimmter Anteil des BIP wird für die Altersicherung verwendet, was die Frage nach Veränderungen im Steuersystem (Abgabe auf Wertschöpfung usw.) aufwirft. Sehe ich mittlerweile eher skeptisch, weil dadurch Gewerkschaften aus dem Spiel genommen werden und Politik und Kapital quasi unter sich aushandeln könnten, ob und wie die Renten angepasst werden. Aber man könnte über Beiträge aus Kapitaltransaktionen nachdenken.

Unterm Strich bleibt dann wohl das “Auch”: Die sozialen/gesellschaftlichen Voraussetzungen, um seine formell gleichen Rechte auch ausüben zu können, müssen garantiert werden, auch in der Alterssicherung. Leider ist der Begriff des Bürgergeldes verbrannt. Politisch gefährlich wäre es, Veränderungen allein in der Alterssicherung zu propagieren.

Helmuth:

 In dieser politisch taktischen Frage sind wir, glaube ich, am weitesten auseinander: Ich finde, wir sollten gerade wieder anfangen, die Grundprinzipien zu propagieren, für die wir stehen. Zur Finanzierung schlage ich vor, erstmal analytisch auf die Einsicht von Marx zurückzugehen, dass sich letztendlich der gesellschaftliche Reichtum auf einer bestimmten Produktivitätsebene durch die eingesetzte gesamtgesellschaftliche Arbeitszeit bestimmt. Dem folgend mache ich folgende Rechnung auf: Bei einem Anteil der Renteneinzahlung von 18.6 % vom Einkommen erhält man nach 5 Jahren Arbeitszeit und dem heutigen Rentenniveau (48 %) 2 Jahre Rente (also grob 1/5 der Arbeitszeit wird pro Monat für die Rente gespart, da man aber nur die knapp die Hälfte des Lohnniveaus ausgezahlt bekommt, muss man diesen Wert verdoppeln). Bei einer Lebenserwartung von ca. 17 Jahren nach Rentenbeginn (67 Jahre) sind wir dann bei 8,5 (17/2 wegen nur Hälfte der Rente im Vergleich zur Höhe des Lohns) * 5 = 42,5 Lebensjahre Arbeitszeit-Einzahlung in die Rentenkasse. Ich würde also schon denken: Rente ist ein Teil des politischen Lohns, der durch Umverteilung von Arbeitszeit in der Klasse bestimmt wird und dementsprechend auch politisch innerhalb der Klasse diskutiert werden kann (was auch immer dann politisch-taktisch daraus folgt).

 Horst:

Die Rechnung habe ich nicht verstanden. Der Beitragssatz hat nichts mit der Dauer oder Höhe der Rentenzahlung zu tun, sondern mit der Deckung der aktuellen/laufenden Rentenzahlungen (Umlageverfahren, nicht Kapitaldeckung). Um überhaupt gesetzliche Rente zu erhalten, braucht es eine Mindestanzahl von Beitrags- bzw. Ersatzzeiten (also eine gewisse Stetigkeit im Lohnarbeiterdasein). Es funktioniert eigentlich andersrum: 45 Beitragsjahre ermöglichen derzeit ab 63 eine abschlagsfreie Rente für den Rest der Lebenszeit. Diese 45 Jahre sind eine - da hast Du recht - politische Setzung, es könnten auch mehr oder weniger sein, aber das ist der entscheidende Punkt: 45 Jahre als Norm.

Deine obigen Einwände gegen Gleichheit als hinreichendes Prinzip für eine linke Debatte, wie gesellschaftliche Realität verändert werden sollte, und der Betonung von Freiheit, Gleichheit, Fürsorge und Kooperation sollten wir vielleicht mal gesondert weiter diskutieren. Ich beziehe mich zum einen auf Bobbio’s kleine Schrift von 1992 zur Unterscheidung von rechts und links und habe das zum anderen erstmal nur für die Debatten in der Linkspartei vorgeschlagen, um von dem Gerechtigkeits-Gedöns wegzukommen, welches nichts mehr erklärt: Was wäre ein normativer Kern, der die Partei von den anderen unterscheidet und der zugleich für die verschiedenen Strömungen in der Partei einen gemeinsamen Rahmen für Klärungsprozesse darstellen kann. Die Erfahrung lehrt, dass es für beide nur einen zentralen Begriff geben kann, sind es mehrere, nimmt sich jeder seinen Favoriten heraus bzw. wird der Unterschied unklar. Und der eine Begriff schafft zugleich Gegner. Insofern habe ich erstmal nur politische Einwände gegen Deinen Vierklang. Wenn man weiter darüber nachdenkt, glaube ich indes, dass sich aus dem Grundsatz der Gleichheit aller Menschen, also der gleichen Rechte usw. sehr wohl die anderen drei Begriff normativ ableiten lassen. Aber: wenn man deutlich machen will, was Linkssein umfasst, dann macht es natürlich auch Sinn, alle vier zu nennen. Will sagen: Ich sehe da eigentlich keinen grundsätzlichen Unterschied.

Helmuth:

Ich passe meine Rechnung mal an die realen Zahlen aus den Jahren 2019 bis 2021 an, je nachdem, was ich schnell gefunden habe. Die durchschnittliche Zahl von Lebensarbeitsjahren vor Rentenbeginn liegt bei 38,7. Der einbehaltene Anteil an Arbeitszeit pro Jahr liegt aktuell bei 18,6 % (siehe jede Lohnabrechnung).

Das Rentenniveau im Vergleich zum Lohn liegt bei aktuell bei 48 %. Das ergibt damit: Für Rente einbehaltene Arbeitszeit dann also: 38,7*18,6/100 = 7,1982.

Die durch Rentenniveau angepasste Arbeitszeit wäre: 7,1982/48*100 =14.99. Renteneintrittsalter: 67 Jahre, aktuelle Lebenserwartung ab 65 Jahre: 80,75 Jahre. Differenz 80,75 - 67 = 13.75 Jahre.

Zum Vergleich: Erwartungswert aufgrund Renteneinzahlung 14,99 Jahre, wobei es natürlich Frührentner etc. gibt, die diese Differenz zwischen 14,99 und 13,75 Jahre gut erklären.

Auch wenn sich das gesetzlich so nicht berechnet - es kommt hin und muss, glaube ich, auch hinkommen, weil sich letztlich alles in geleistete Arbeitszeit umrechnet, wie Marx schon betont hat.

An irgendwelcher Form von Umverteilung kann ich kaum etwas erkennen. Wäre also noch "Spiel" nach oben, denn diese Berechnung ist komplett eine "in der Klasse". Dann stellt sich die Frage, inwieweit im Nachhinein die Arbeitszeit je nach gekoppeltem Einkommen weiter differenziell gerechnet werden soll, wie es aktuell passiert (bei gleich langem Arbeiten bekommt, wer hohes Einkommen hat, deutlich mehr Rente, als jemand, der ein niedriges Einkommen hat).

Ist es aus linker Sicht nicht richtiger zu sagen, dass bei der Rente solche Verdienstunterschiede keine große Rolle mehr spielen sollten – also Bindung der Rentenauszahlung überwiegend nur an die geleistete Arbeitszeit, die als Rente dann auf dem vorhandenen Produktivitätsniveau ausgezahlt wird? Dies wäre eine strikte Umsetzung im Sinne von Gleichheit (mal grob vereinfachend gleiche Arbeitszeit, gleiche Rente, egal ob Lehrer oder Reinigungskraft). Allerdings wäre das nach meinen vier Prinzipien nicht hinreichend, es geht auch um Fürsorge, d. h. um einen unteren Sockel (Mindestrente) plus genereller Angleichung der Rentenhöhe. Darin wären wir uns ja aber einig, wie dein Hinweis auf die Rente in der Schweiz zeigt.

Horst:

Ja, die gesetzliche Rente, so wie sie besteht, enthält vor allem Umverteilungseffekte innerhalb der Lohnarbeit, was ja nicht weiter verwunderlich ist, da die Beiträge vom Lohn erhoben werden. Daran - an der Bemessungsgrundlage »Arbeitseinkommen« - würde sich durch den Ausbau zu einer Erwerbstätigenversicherung prinzipiell nichts ändern, wäre erst bei einer »Bürgerversicherung« der Fall, wenn auch Einkommen aus Kapital, Grund und Boden usw. Beitragspflicht werden würden. Allerdings stammen aktuell etwa 25% der GRV-Einnahmen aus Bundesmitteln, also Steuern (allgemeiner Zuschuss für Mindestrenten und für Kindererziehung- und Pflegezeiten u.a.m.), so dass gewisse (kleinere) Umverteilungseffekte aufgrund der anderen Zusammensetzung der Steuer entstehen.

Die Verteilungseffekte innerhalb der Lohnarbeit sind allerdings teilweise schon bedeutend. So erhält man bereits nach einer Mindestbeitragszeit von 5 Jahren eine zeitlich unbefristete Regelaltersrente (demnächst generell ab 67), allerdings eine sehr niedrige. Und das durchschnittliche 48%-Niveau erreicht man nur dann, wenn man 45 Jahre einen Durchschnittsverdienst erzielt hat, also bei 45 Entgeltpunkten. Oder aber es bleibt bei 48% der individuellen Bemessungsgrundlage (also des Preises, den man für seine Arbeitskraft über die Lebensarbeitszeit erzielen konnte). Entscheidend sind die persönlichen Entgeltpunkte, die man innerhalb der Lebensarbeitszeit angesammelt hat, und deren jährlich neu bemessener aktueller Wert. Danach berechnet sich der zur Finanzierung notwendige Beitragssatz (wobei eine notwendig werdende Erhöhung auch durch höhere Steuerzuschüsse vermieden werden könnte). Oder anders formuliert: Der Beitragssatz gibt an, wie lange für den aktuellen Rentenbestand gearbeitet werden muss, er ist für die eigene spätere Rentenhöhe nicht relevant. Relevant ist allein die persönliche Position im Verhältnis zum Durchschnitt. Beitragserhöhungen werden dann fällig, wenn sich a) die Zahl der Beitragszahlerinnen vermindert, b) die erwartete durchschnittliche Rentenzahlzeit verlängert, c) der Wert der Entgeltpunkte (Preis, Zusammensetzung) stärker verändert als die Bruttolohn- und Gehaltssumme oder d) die Zahl der Rentenbezieher stärker steigt als die Zahl der Beitragszahler und/oder die Lohnsumme. Das heißt im Ergebnis, dass man auf der Basis Deiner Arbeitszeitrechnung sagen kann: Bei einer heute für, sagen wir, 35Jährige zu erwartenden Lebensarbeitszeit von 39 Jahren wird er gut 7 Jahre dafür arbeiten müssen, die Renten, die während seiner Lebensarbeitszeit fällig werden, zu finanzieren (es sei denn, es kommt zu positiven oder negativen Veränderungen gemäß a) bis d)). Man kann aber keinen »Erwartungswert« daraus ableiten (nur zufällig) (Es sei denn, die Lebenserwartung bliebe unverändert, dann würde das heutige Verhältnis auch für die Zukunft gelten, wenn die Relation aller anderen Faktoren stabil bliebe.) Bei Deiner Formel würde sich für den Fall, dass die Beitragshöhe steigen muss (aus einem der vier Gründe), um den Rentenbestand zu finanzieren, sagen wir auf 20%, Folgendes ergeben: 38,7*0,2 = 7,74 Arbeitsjahre. 7,74/48*100 = 16,125 Rentenerwartungswert aufgrund Einzahlung. Nun verändert sich die Lebenserwartung aber ja nicht aufgrund dieses Wertes. Es lässt sich vermutlich nicht alles in Arbeitszeit umrechnen, ohne den Preis, der für die Arbeitskraft erzielt werden kann, zu berücksichtigen. Oder habe ich da etwas übersehen?

Helmuth:

Diese Ausführungen teile ich weitgehend. Das deutsche Rentensystem ist so konstruiert, und klar, die gesamtgesellschaftlich geleisteten Arbeitsstunden ändern sich über die Jahre, wenn auch diese Schwankungen gar nicht so hoch sind (das sind eher die pro Kopf geleisteten).

Aber andererseits zeigt dieses Beispiel auch, dass die Grundeinheit (Arbeit sans phrase) weiterhin Sinn macht trotz Produktivitätsänderung. Man könnte da sogar eine durchschnittliche Produktivität im Sinne von einfach und komplex ableiten, die ja in der Marxschen Theorie immer ein großes, offenes Problem darstellte. Was die Umverteilung angeht. Ein Teil des Steueranteils stammt aus der Klasse, ist also keine Umverteilung. Bei den 25 Prozent Umverteilung wären auch Reha-Maßnahmen drin. Und als Frage: Wird man Grundrente komplett dazurechnen müssen oder ist das eine teilweise nicht auch eine Wohlfahrtsleistung?

Es bleiben aber die Fragen:

Was ist hier das linke Grundprinzip: Gleichheit in Richtung entäußerte Arbeitszeit statt Einkommensäquivalenz? Mindestrente als Fürsorge? Teilweise Übertragung an commons? Und die Frage, ob es politisch klug ist, diese Fragen zur Rente zu stellen, wenn die gesellschaftliche Situation so ist, wie sie ist (was du ja eher als problematisch ansiehst)? 

Horst:

Vorstellbar wäre ja, ist ja erstmal Folgendes: Linke, sozialistische Politische Ökonomie hat zum Ziel, die Grundgüter nachhaltiger gesellschaftlicher Reproduktion - individuell, sozial, politisch - für alle zu sichern. Wobei nachhaltig bedeutet: Das Niveau muss global verallgemeinerter vorstellbar sein. Was dazu gehört, wird in demokratischen Verfahren entschieden. Daraus resultiert ein veränderliches Quantum gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit, die auf alle verteilt wird. Wer im Laufe seines Erwerbslebens dieses Quantum erbringt, hat Anspruch darauf, im Alter über diese Grundgüter verfügen zu können/sie nutzen zu können usw. Alles andere bleibt individuellen Vorlieben usw. überlassen, für deren Ausleben es klare Rahmenbedingungen gibt, die den »notwendigen Sektor« schützen. Also ja, am Ende geht es um Zeitquanta, nicht um Einkommensäquivalenz.

Helmuth:

hier eine aktuelle Meldung aus den Medien, die wir nicht konkret eingeholt haben:

"Schnitzer („Wirtschaftsweise“) will Rentenerhöhungen nicht mehr an Lohnsteigerungen, sondern an der Inflationsentwicklung ausrichten. Letzteres praktizieren zahlreiche andere europäische Staaten. Das kann, weil die Preissteigerung meist niedriger ist als die Lohnentwicklung, zu geringeren Rentenanhebungen führen. Wobei die Kaufkraft, so Schnitzer, „zumindest erhalten“ bleibe."

Führt direkt zu der Frage: ist Arbeitszeit der entscheidende Parameter (unabhängig von der jeweiligen Produktivität). Dann Ausrichtung der Rentenhöhe am ehesten an Lohnsteigerungen, wobei diese ja auch hinter Produktivitätszuwachs zurückbleiben. Wenn Einkommen (Lohnhöhe) der entscheidende Parameter ist, dann Inflation. 

Es würde sich also wirklich lohnen, mal wieder über die Grundfragen zu streiten, wenn ich mit meiner "Übersetzung" richtig liege.

Horst:

meiner Meinung nach geht es hier zunächst um eine andere Grundsatzdebatte als Arbeitszeit/Lohn - Einkommen: Welcher Art ist das in der Gesetzlichen Rentenversicherung aufgebaute Sozialeigentum, denn um eigentumsähnliche Rechtsansprüche handelt es sich laut Verfassungsgericht. Diese Rechtsansprüche sind gesetzlich geschaffen: als Teilhabe auch an der zukünftigen Reichtumsproduktion, gemessen am Wachstum der gesellschaftlichen Lohnsumme (= dynamische Rentenanpassung« u.ä. Begriffe). Dieser Maßstab setzt voraus, dass die Löhne im Zusammenhang mit der Produktivität wachsen. Aber ob das ein guter, schlechter oder mittelmäßiger Maßstab ist, ist hier erstmal nebensächlich. Denn die Forderung von Schnitzer richtet sich gegen die Kopplung der Rentenerhöhung an Wachstum gesellschaftlichen Reichtums (oder meinetwegen des Teiles, der Quarantäne Lohn bei den abhängigen Beschäftigten ankommt). Diese Kopplung hat unzweifelhaft den Nachteil, dass eine steigende Inflation erst dann zu einer Rentenerhöhung führt, wenn zuvor die Löhne erhöht wurden. Die Kopplung der Rentenerhöhung an die Preisentwicklung sorgt bestenfalls dafür, dass die Kaufkraft zum Zeitpunkt des Renteneintritts für den Rest des Lebens erhalten bleibt, aber eine dynamische Beteiligung nicht mehr stattfindet. Damit wäre eine »Errungenschaft« aus dem Jahre 1957 beseitigt. Eine Anpassung an die Löhne bedeutet zudem immer eine Anpassung an die Kampfkraft der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften, eine Anpassung an die Inflationsrate im Grunde genommen eine vollständige Unterwerfung unter politisches Wohlwollen ohne »Gewinnbeteiligung«, die sogar die kapitalbasierten Renten kennen…

Klassenkämpferisch betrachtet läuft der Vorschlag also darauf hinaus, in Zeiten guter Marktverhältnisse für den Verkauf der Arbeitskraft (»Fachkräftemangel«) mögliche Rentenkaufkraftzuwächse auszuschließen und die Solidargemeinschaft der aktuellen und ehemaligen Arbeitnehmer auszuhebeln (neutraler: »neu zu gestalten«). 

Schnitzer will also eine Rentenkürzung und Bruttolohnsummenentlastung für Unternehmen, findet die aktuelle Inflationserfahrung und die populistischen Forderungen nach einem Inflationsausgleich für Rentner dafür mal wieder eine günstige Gelegenheit... 

Die Grundsatzfrage lautet also aus meiner Sicht zunächst: Soll die Kaufkraft der Rente auf dem Stand des Renteneintritts eingefroren werden? (Statistisch gab es in den zurückliegenden 60 Jahren immer wieder Realkaufkraftsteigerungen der Rente wie auch -verluste.) Wenn ja, dann wäre Inflation der entscheidende Parameter. Wenn jedoch weiter der Grundsatz gelten soll, dass die Schicksalsgemeinschaft Lohnarbeit über die Altersgrenze hinaus gelten soll, dann ist der Inflationsausgleich normatives Gift: Er müsste womöglich aus Lohnbeiträgen bezahlt werden, obwohl es für die Löhne keinen automatischen Lohnausgleich gibt. »Schicksalsgemeinschaft« meint hier auch: dass der aktuelle Reichtum auf der vergangenen Arbeit aufbaut. Ob dafür Lohn, Arbeitszeit (wie preislich bewertet?) oder etwas ganz anderes der geeignete Maßstab ist, wäre dann im nächsten Schritt zu diskutieren.

Das gilt meines Erachtens auch, wenn aus der Rentenversicherung eine allgemeine Erwerbstätigenversicherung würde, in der auch die unbezahlte Care-Arbeit als Rahmenbedingung für Erwerbsarbeit berücksichtigt würde - hier hätte die Zeit dann eine größere Rolle zu spielen.

Das gilt nicht mehr, wenn die Rentenversicherung ausschließlich den Charakter einer Bürgerinnenversicherung hätte, dann stände es im politischen Belieben demokratischer oder autoritärer Macht, die Renten- und ihre Anpassungen zu bemessen.

Mischformen kann man sich zumindest in beiden Fällen theoretisch vorstellen. (Rentenrechtlich berücksichtigte Kindererziehungs- und Pflegezeit werden aktuell mit einem Durchschnittslohn bewertet.)

In einer Gesellschaft, in der im Grunde genommen letztlich alles ein Preisschild haben muss, stellt sich am Ende immer die Frage des Geldwertes/Preises einer Arbeitsstunde = Lohn. Wenn man grundsätzlich werden wollte, müsste man wohl die Debatten um die Lebensarbeitszeitkonten wieder aufgreifen: Wieviel Arbeitsstunden müssen im gesellschaftlichen Durchschnitt für einen durchschnittlichen Rentenanspruch erbracht werden? Auf dieses Konto könnten dann auch Care-Stunden gebucht werden, für die (Durchschnitts-)Beiträge aus Steuermitteln und anderen Töpfen (KV, PflV) gezahlt werden. Das liefe auf eine Fortentwicklung des bestehenden Systems, dort vorhandener Ansätze hinaus.

Meines Erachtens sollten sich Linke auf solche Aspekte konzentrieren. Denn die Rente ist ein dem Lohnsystem nachgelagertes System, echte Grundsatzfragen werden dort geklärt… 

Helmuth:

irgendwie finde ich, dass du eigentlich die Sache genauso siehst wie ich: Arbeitszeitausgleich plus Produktivkraftentwicklung = Rentenhöhe oder ich verstehe dich falsch.

Schnitzer sagt: Arbeitszeit ohne Produktivkraftentwicklung, d.h. bei Inflationsausgleich für die Waren, aber ohne Anpassung an veränderte gesellschaftliche Möglichkeiten.

Dass diese Frage politisch entschieden werden muss (d.h. durch Klassenkämpfe), ist uns gemeinsam klar.

Aber trotzdem bedarf es einer Argumentation und die wäre bei mir: niemand kann etwas dafür, in welche gesellschaftliche Produktivität er hinein geboren wurde, der Vergleich ist die gesamte geleistete gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit zur Reproduktion (was nicht nur die Lohnarbeit umfasst).

Über diesen Maßstab ließe sich besser und prinzipieller streiten, als einfach nur Umverteilung zu fordern.

Horst:

Hmm, ja, irgendwie sind wir da ziemlich bei einer Sicht, und doch…

Das bestehende Rentensystem basiert auf dem Lohn, eine Größe, die sich auf vielfältige Weise gesellschaftlich - Markt, Demografie, Politik - herausbildet. Dieses System mit der Größe Arbeitszeit begreifen/regulieren zu wollen, setzte voraus, die bestehenden Arbeitszeiten und ihren Preis als Ausdruck gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit zu begreifen (was am Ende aber irgendwie doch zirkulär wäre). Ich sehe da nicht den Erkenntnisgewinn.

Wenn aber am kritischen Gehalt des Begriffs notwendiger Arbeitszeit zur gesellschaftlichen Reproduktion festgehalten werden soll, bräuchte es doch eine politische Verständigung über das Notwendige und die Art und Weise seiner Erbringung. Und im Sinne eines so bestimmten Notwendigen - wäre da nicht jede Stunde gleich zu bewerten - unabhängig von den Kosten der Ausbildung des je spezifischen Arbeitsvermögens? Müssten da nicht Debatten, Verständigungen über basale Güter, Grundgüter, gesellschaftliche Reproduktion, gutes Leben vorausgehen (die es ja hier und da auch gibt), (oder auch auch um »Austerität« im Sinne des PCI-Manifestes von 1977)?

Helmuth:

Lohn ist in der Tat ein sehr variabler Parameter. Er hängt von vielerlei ab, u.a. von der Fähigkeit, seine eigenen beruflichen Kompetenzen effektiv gegen die Konkurrenz zu verteidigen. Siehe die Mediziner. Und siehe die Beamten. Oder Apotheker. Aber natürlich auch von der gesellschaftlichen Realität von Lohnkämpfen oder politischen Auseinandersetzungen um absolute und relative Steuerhöhen und deren gesellschaftliche Verteilung.

Arbeitszeit ist eine Variable, die uns alle gleicher macht. Und sie ist nicht solchen Schwankungen unterworfen wie der Lohn. Sie ist freier (wählbar, was für den Beruf und das Erwerbseinkommen nicht so richtig gilt), gleicher (einfach in Stunden bemessen), fürsorglicher und kooperativer (wenn man sie als notwendige Arbeitszeit und nicht als Lohnarbeitszeit definiert).

Und mein Empfinden ist, dass linke Politik dazu führen sollte, dass Menschen trotz biologischer und gesellschaftlicher Unterschiede am Ende ihres Lebens dann doch gleicher sein sollten, worin wir ja übereinstimmen. 

Insofern scheint mir mein Maßstab für die Grunddiskussion geeigneter zu sein (genau wie du in der Mitte des zweiten Absatzes schreibst). Einig sind wir uns auch darin, dass eine Verständigung über Common integraler Bestandteil sein sollte.

Ich habe da irgendwo mal etwas über Arbeitszeit und Einheitswert für die Bewertung der jährlichen Renteneinzahlung ("Punkte") geschrieben. Das fand ich theoretisch interessant, weil damit ja so etwas wie ein empirischer Wert für gesellschaftlich durchschnittliche Arbeitsproduktivität bestehen könnte und damit auf einfache und komplexe Arbeit referiert, ein Problem, was empirisch schwer lösbar erscheint. Das war aber nur ein Seitengedanke.

Der Hauptgedanke ist: wir wissen, wieviel eine Person lohngearbeitet hat - ist es ein linkes Ziel, bei dem dabei realisierten Stundenlohn zu bleiben oder eher einen Ausgleich in richtig gleicher Anstrengung zu realisieren? Und diese Anstrengung (Menge der verausgabten Arbeitszeit) bleibt über die Zeit, d.h. bei veränderter Produktivität doch gleich. Deshalb kein Inflationsausgleich, sondern Berücksichtigung des Produktivitätszuwachses.

Horst:

Also ich bin auf jeden Fall auf der Seite der Anstrengung...

Helmuth:

Vielen Dank für diese vielen Erläuterungen und für die offene Diskussion!