verfasst von Helmut
Vergessen macht sich breit in Europa:
Vergessen eines Zustands vor 200 Jahren, als man, um von Flensburg nach München zu kommen, mindestens sechs Grenzschlagbäume passieren musste und der Deutsche Bund aus 41 souveränen Staaten bestand. Wo auf diesem Gebiet nach den Kriegen gegen Napoleons Truppen zwei weitere Kriege geführt wurden, denen dann 1870/71 der gegen Frankreich folgte. Oder über einen Zustand vor 100 Jahren, als die deutsche Armee nicht nur das französische Gebiet überfallen hatte und gerade ein Krieg beendet worden war, der neun Millionen Soldaten das Leben gekostet hatte. Nur erschreckend wenige Jahre später sollte sich der weltweite Kriegsbrand wiederholen, um nach 70 Millionen Toten zu einer Grenze mitten durch Europa zu führen, die lange Zeit als unüberwindbar galt.
Aber auch ein Vergessen einer Situation, wo Reisen mit permanenten gebührenpflichtigen Geldwechseln, Smartphonetelefonieren mit extrem teuren „roaming“-Gebühren, eine Banküberweisung mit endlos langen Formularen, das Arbeiten im Nachbarland mit bürokratischen Hürden und ohne länderübergreifenden Versicherungsschutz, das Lernen und Studieren im Ausland mit dem Risiko der fehlenden Anerkennung usw. verbunden war. English version Version francaise
Nach all den in der EU erreichten Fortschritten könnte man sagen: „We love Europe“, zumal viele klimapolitische Maßnahmen oder positive Eingriffe in die nationalen Entscheidungen zugunsten der Freiheit aus Brüssel stammen.
Aber dies ist natürlich nur die eine Seite der Medaille.
Europäische Integration auf dieser Basis heißt auch Konkurrenz und Lenkung von Warenströmen weg von der „Peripherie“ hin zu den Zentren, wo Geld verdient und Profite gemacht werden. Apropos Lenkung von Reichtum: Die deutsche Autoindustrie hat die Möglichkeiten des EU-Binnenmarktes genutzt, um die Herstellung von Vorprodukten ins billigere Osteuropa umzulagern, zu Lasten der ArbeiterInnen in Italien und natürlich auch in Deutschland. Die Abbildung 1 zeigt diesen Vorgang für den Autohersteller Audi mit überproportional mehr Gewinnen als neu eingestellten ArbeiterInnen.
Fehlendes Reinigungs-, Pflege- und ärztliches Personal in Deutschland wurde durch Menschen aus dem Ausland ersetzt. Der Prozentsatz der Personen aus anderen Ländern Europas, der auf Baustellen, in der Warenauslieferung und in der Fleischindustrie arbeitet, nähert sich dem der Menschen, die hier geboren wurden. Die EU ist ein ökonomisches „Erfolgsrezept“ für Unternehmen, deren Gewinne deutlich gesteigert wurden.
Eine Auflösung der EU zu Gunsten der alten Nationalstaaten würde an den Zuständen nichts verbessern. Das faktische Beispiel dafür ist Großbritannien nach dem Brexit: Im Januar 2024 meinten knapp zwei Drittel, nämlich 63 Prozent der Britinnen und Briten, der Brexit sei kein Erfolg gewesen. Nur 12 Prozent sahen einen Erfolg, was wenig ist, nachdem die Befürworter*innen so für den Ausstieg gekämpft hatten.
Migration ist eine Errungenschaft der EU,
denn sie ist ein Zeichen der Freiheit, dorthin gehen zu können, wo man sich mehr Glück und Chancen verspricht. Sie ist ein Hintergrund für unsere Stärke: Wenn’s bei der Arbeit oder zu Hause zu schrecklich wird, können wir aufbrechen und etwas Neues suchen; das schwächt die Macht der Arbeitgeber und anderer „Autoritäten“ und stärkt unsere Verhandlungsmöglichkeiten.
Migration ist aber dann ein Problem, wenn sie durch ökonomische und soziale Bedingungen strukturell eingeschränkt wird, wenn sie als reißender Strom in eine Richtung verläuft, z. B. vom Osten und Süden Europas wegen der schlechteren Lebensbedingungen in den Norden und die Mitte Europas. Dann kommt es zu Verfallsprozess und starker Beanspruchung, Verfall von Gebieten in Ost- und Südeuropa mit deutlich sinkenden Einwohnerzahlen - ein Prozess, der schon seit 2010 vorhanden ist und sich in den nächsten Jahren fortsetzen wird (siehe die untenstehende Abbildung). Mit der Folge, dass sich die Lebensbedingungen für die Zurückbleibenden zu Gunsten der Lebensbedingungen der Menschen in der Mitte und im Norden Europas verschlechtern, wo genügend junge Menschen vorhanden bleiben, um die Arbeit zu erledigen. Der Osten Europas ist das Gebiet, das sich weltweit am schnellsten entvölkert, und Abwanderung ins Zentrum Europas ist eine Ursache. Das führt auch zu Beanspruchung im Norden, z.B. in den Schulen wegen der vielen Kinder, die wenig Deutsch sprechen.
Diese Tatsache wird so bleiben, solange nicht annähernd gleiche Bedingungen in allen Teilen Europas geschaffen werden. Das merken wir schon innerhalb nationaler Grenzen, wo sich der Osten, Teile des Nordens und südlichen Westens Deutschlands entleeren und die städtischen Zentren immer größer werden. Eine nur ökonomische Überwindung der nationalen Grenzen, die in Europa verlaufen, oder ein freier Warenverkehr ohne eine Umsetzung von gleichen Lebensbedingungen überall ist Gift für soziale Zusammenhänge und reißt Familien über tausende von Kilometern auseinander.
Was wäre eine linke Antwort auf diese Probleme?
Gleiche Lebensbedingungen für alle: Und das meint vergleichbares und hinreichendes Einkommen auch bei Arbeitslosigkeit, heißt gleicher freier Zugang zum Gesundheitswesen, gleichwertige Schul- und Berufsausbildung, gleichwertiger Schutz vor Behinderung und Wohnungsnot.
Mit einem starken Sektor des öffentlichen Gemeinguts für Gesundheit, Bildung, Pflege und Wohnen, für die Natur und für Besucher und Flüchtlinge. Denn das ist es, was eine Linke Antwort auszeichnet: die Fürsorge für die „Schwächeren“ und die freie Kooperation der Gleichen auf Augenhöhe für die Erwirtschaftung dessen, was wir für das Leben brauchen.
Noch weniger (Aus-)Grenzhaftigkeit: Eine Antwort wäre Fürsorge und Kooperation innerhalb der EU und für die gesamte Bevölkerung über alle Grenzen hinweg. Also Grenzen zwischen den Ländern noch stärker einreißen – nicht nur Freiheit und Gleichheit für Waren, was die jetzigen Probleme mit der EU einbringt.
Und was fordern die Alternativversager für Deutschland und anderswo für Europa?
Erstmal haben sie Angst vor einem Schwund der Souveränität der Nationalstaaten. Wie „nett“: endlich wieder bürokratisch Währungen tauschen, wenn’s in den Urlaub geht, langes Warten an den Grenzen, wo Reisepässe auf Gültigkeit überprüft werden usw.
Und dann sind sie mal wieder dagegen und lehnen eine gemeinsame „europäische Identität“ ab: Super - am besten gleich zurück zur Identität als Bayer, Sachse, Niedersachse, Pfälzer und zum Land Oldenburg.
Weiter soll der einseitige politische Fokus auf einen stärkeren gemeinsamen Markt gelegt werden. Wie „weitsichtig“: Mehr Vorprodukte aus Osteuropa, mehr Zwang zur Migration, mehr Ungleichheit in gesundheitlicher Versorgung und Bildung, d. h. alles das, was nur den Unternehmen dient und die Ungleichheit in Europa verstärkt.
Und es geht um „Bewahrung der europäischen Kultur und ihrer verschiedenen Identitäten“. Was für ein hilfreicher Hinweis bzw. für eine inhaltsleere Sprechblase!
Und was fordern sie nicht? Die Fürsorge für die „Schwächeren“ mit Schulausbildung, Gesundheitsschutz und Krankheitsbehandlung auf gleichem Niveau, freie Kooperation der Gleichen auf Augenhöhe für die Erwirtschaftung dessen, was wir für das Leben brauchen, durch weitgehende Mitbestimmung in Betrieben und große technische Projekte wie integrierte Energieerzeugung in öffentlicher Hand für ganz Europa.
Die AfD – nur eine weitere Partei der Gutsituierten und gesellschaftlich Etablierten.