Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus (2007)
Klein ist Journalistin, keine lehrende Wissenschaftlerin; sie schreibt ein typisch us-amerikanisches Enthüllungsbuch, das sich wenig oder gar nicht um Vorgänger kümmert, als ob die Autorin das Thema neu entdeckt hätte.
Man vermißt aus dem angelsächsischen Sprachbereich z.B. Bezüge zu Chossudovsky,
Chomsky, Vidal, Davis. Der letztgenannte hat
schon davon gesprochen, daß die Engländer zur Duchsetzung von Marktgesetzen, etwa in
Indien, Hungerschocks förderten (in: „Die Geburt der Dritten Welt“) und bei dem Chilenen
Chossudovsky findet sich schon der Satz: „Diese enorme Steigerung von 364 Prozent (des
Brotpreises wenige Wochen nach dem Militär-Putsch gegen die Allende-Regierung/G.K) von
einem auf den anderen Tag war Teil einer wirtschaftlichen Schocktherapie, das Werk einer
Gruppe von Ökonomen, die man die ‚Chicago-Boys nennt.‘“ (Global-Brutal. Der entfesselte
Welthandel, die Armut, der Krieg, 2002, S. 17).
Kleins Buch ist sehr gut recherchiert; sie hatte anscheinend gute Recherchenhilfe (s.
Danksagung) und ist bei einigen der kritisierten Institutionen (Weltbank, IWF, ehemaligen
Regierungsmitgliedern) auf Unterstützung gestoßen.
Die Studie ist rein empirisch angelegt. Theorie-Konstruktionen laufen nebenher, und die
Einstellung der Autorin zu ihnen bleibt unklar. So polemisiert die Autorin zwar fortwährend
gegen Friedman und seine Chicago-Schule, sie zeigt v.a. die schlimmen Folgewirkungen in
der Praxis auf, aber sie hält Friedman als Anpassungsideologe an die Globalisierung nichts
entgegen, etwa eine Theorie der Regulation des internationalen Finanzmarktes. Die ganze
europäische Diskussion in dieser Richtung bleibt sowieso außen vor; das Adam-Smith-
Institut, das in Europa als Ausgang des neoliberalistischen Feldzuges und der
Implementierung in der EU bisher angesehen wurde, wird gar nicht erwähnt.
Eine theoretische Analyse wäre keine Alternative, die empirische Fundierung ist schon
ergiebiger; allerdings könnte sie weniger personalistisch sein (Wer hat mit wem geredet? Wer
hat wen beeinflußt? Wer hat was nachträglich gesagt?), dafür mehr strukturanalytisch (Wie
gestalten sich politische und ökonomische Macht in Verbindung mit einer Ideologie in einer
best. Zwangskonstellation?). Strukturanalytische Fragen werden behandelt als verstünde sich
die Antwort von selbst (z.B. das Verhältnis der Chicagoer-Schule zur Macht, was treibt sie
eigentlich an? Das Einknicken gewählter sozialdemokratischer Vertreter bei Privatisierung
und Sozialabbau, die leichte Preisgabe des Keynensianismus als vielversprechende
Kapitalismuszähmung, die ursprüngliche Ideologiebarriere in China gegen die
Kapitalisierung, die durch einen Besuch Friedmans in China weggeräumt worden sein soll,
die Rückkehr der wirtschaftswissenschaftlichen Ideologie zu den sog. natürlichen Kreisläufen
nach Beendigung des kalten Krieges).
Zu diesem Komplex gehört auch die expressis verbis Übertragung von individuellen
Schocktherapien in den 50er Jahren im Zuge des kalten Kriegs auf Kollektive ab den 70er
Jahren. Methodisch wird das nicht reflektiert, auch hier dient die Beschreibung als Ersatz:
„Die Schockdoktrin ahmt diesen Prozeß exakt nach und versucht, bei der Masse das zu
erreichen, was die Folter mit dem einzelnen im Vernehmungsraum anstellt. Das deutlichste
Beispiel war der Schock des 11. September, der für Millionen Menschen die ‚vertraute Welt‘
sprengte und eine Periode weitgehender Desorientierung und Regression einleitete, die die
Regierung Bush meisterhaft ausnutzte. Plötzlich lebten wir in so etwas wie einem Jahr Null,
in dem alles, was wir zuvor über die Welt wußten, als das ‚Denken vor dem 11/9‘ verworfen
werden konnte [...] Da die Gedanken aller nur noch um tödliche neue Kulturkriege kreisten,
konnte die Regierung Bush durchziehen, wovon sie vor dem 11. September nur hatte träumen
können: im Ausland privatisierte Kriege führen und zu Hause einen korporatistischen
Sicherheitskomplex aufbauen. So funktioniert die Schockdoktrin: Das ursprüngliche
Deseaster – der Staatstreich, der Terroranschlag, der Zusammenbruch der Märkte, der Krieg,
der Tsunami, der Hurrikan – versetzt die gesamte Bevölkerung in einen kollektiven
Schockzustand. Die fallenden Bomben, die Gewaltausbrüche, die hämmernden Sturmboen
klopfen ganze Gesellschaften genauso weich wie plärrende Musik und Schläge in der
Folterkammer die Gefangenen.“ (Klein, S. 31 f)
Die Evidenz der Übereinstimmung soll sich aus der jeweiligen Beschreibung ergeben sowie
daraus, daß die individuelle Folter Eingang in ein Handbuch der CIA gefunden hat, das bei
entsprechenden Aktionen benutzt wurde. – Politisch mag das stimmen, aber ein
wissenschaftlicher Nachweis ist das nicht.
Klein scheint sich von aller Dogmatik des Marxismus oder Neomarxismus fern zu halten,
tatsächlich läuft ihre Analyse auf eine monokausal-ökonomistische Erklärung der USAußenpolitik
hinaus. Es geht immer um die Durchsetzung der neoliberalistisch geprägten
Spielregeln des Weltmarktes, von dem die USA am stärksten profitieren, für die aber auch
länderspezifische Profiteure zu mobilisieren sind. Das Politisch-militärische hat für Klein gar
kein Eigengewicht, etwa das, was in Europa als die Logik der neuen Kriege diskutiert wird.
Am wenigsten überzeugend ist ihr Argumentationsgerüst ausgerechnet dort, wo sie an Ort und
Stelle recherchiert hat, also etwa für den Irak. Die dort festgestellte Minimierung des Staates
wird zutreffen, auch die Privatisierungspraktiken von US-Firmen, aber Gründe für den Krieg
sind das keine, vielmehr gehören diese Vorgehensweisen der USA in den unausgesprochenen
Gesamtzusammenhang der Analyse: die USA fordern von allen Ländern Anpassung an den
globalisierten Kapitalismus, aber sie selbst passen diesen ihren Bedürfnissen an. Das ist auch
der Grund, weshalb es zwischen Reagan und den Bushs keinen Kontinuitätsbruch gibt, den
gibt es seit 1917 immer nur in Marginalfragen.
Ein weiteren Faden durchzieht die Arbeit, ohne gezielt aufgenommen zu werden: das
Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie. Die bürgerlichen Theorien bis zu den neoliberalistischen
haben stets behauptet, beides sei vereinbar. In der Praxis hat das Bürgertum
freilich stets Vorkehrungen getroffen, falls die Demokratie dem Kapitalismus gefährlich
werde (Wahlzensus, Grundrechtsfestschreibungen, Oberste Gerichte, Notstandsgesetzgebung,
sicherheitsstaatliche Gesetze). In den USA hat die Bush-Administration nach dem 11. Sept.
2001 gezeigt, wie dehnbar liberale Verfassungen sein können, ohne sie völlig auszuhebeln.
Klein hat unter den zahlreichen Ländern, die sie analysiert, nur zwei klassische Demokratien:
die USA und England. Es wäre interessant gewesen, Demokratien einzubeziehen, die nicht in
Verbindung mit Kriegsideologien (Irak, Afghanistan, Falkland), sondern gegen eine drohende
Kriegsbeteiligung und mit Hilfe einer Naturkatastrophe wie der Oder-Flut das neoliberale
Programm durchgesetzt haben. So geschehen unter Schröder mit der Agenda 2010.
Das hätte auch im letzten Kapitel Argumente bringen können, wo Klein das Wiedererwachen
des Volkes vor allem in Lateinamerika feiert. Wie sie es tut, erscheint der wachsende
Widerstand als einer jener Stimmungswandlungen, wie sie in Lateinamerika pro und kontra
USA immer schon zu verzeichnen waren. Originalton Klein: „Anders gesagt: In den beiden
lateinamerikanischen Staaten (gemeint sind Venezuela und Uruguay/GK), in denen die
Wähler dem Washingtoner Konsens eine Absage erteilt hatten, fanden die Bürger den
Glauben daran wieder, daß die Demokratie ihnen die Macht gibt, ihre Lage zu verbessern. In
krassem Gegensatz zu dieser positiven Stimmung zeigen Unfrageergebnisse in Ländern, deren
Wirtschaftspolitik trotz anderslautender Wahlversprechungen weitgehend unverändert
geblieben ist, daß dort das Vertrauen in die Demokratie stetig schwindet, was sich auch in
nachlassender Wahlbeteiligung, abgrundtiefem Zynismus gegenüber Politikern und einem
Erstarken des religiösen Fundamentalismus widerspiegelt.“ (Klein, S. 631).
Wie fern Klein Europa ist, zeigt ihre Einbeziehung der Volksabstimmung über die
Europäische Verfassung in Frankreich und Holland. In der Ablehnung sieht sie den Willen
gegen ungezügelte freie Marktwirtschaft sich manifestieren. Das ist denn doch etwas sehr
weit hergeholt! Eher handelt es sich um die Ablehnung einer weiteren Medialisierung des
demokratischen Wollens.