verfasst von Helmuth english version    version francaise

Drei unterschiedliche Standpunkte zu linker Klimapolitik und Europawahl stehen auf der Webseite. Schematisch sortiert fordert Ulrich, dass die technologisch richtige Klimapolitik der EU von sozialer Umverteilung begleitet werden müsste. Vergesellschaftung von Energiekonzernen steht er skeptisch gegenüber. Irene teilt die Notwendigkeit der Umverteilung, sieht aber gerade Vergesellschaftung bestimmter Bereiche (öffentlicher Nahverkehr, Energiekonzerne) als zusätzliche Notwendigkeit. Niko hingegen postuliert, dass beides nichts hilft, solange es nicht zu einer Umdrehung der Wirtschaftsentwicklung in Richtung Schrumpfung kommt, da er keine Entkopplung von Energieverbrauch und Produktion erkennen kann. Vergesellschaftung, wie von Irene vorgeschlagen, sei dementsprechend kein Ausweg, solange sich nicht Lebenspraxen ändern (weniger Konsum). Und zudem führe dieser ganze Prozess vor Augen, dass Aufklärung und technologische Entwicklung an ein Ende gekommen seien, denn sie führten nicht zur Freiheit, sondern in die Katastrophe. 

Maßgebliches Prinzip: aus Geld soll mehr Geld werden

Ich möchte Nikos Position verteidigen, auch wenn ihr Ausgangspunkt - es gibt keine Entkopplung von Energieverbrauch und Produktion - sicher falsch ist (siehe Anm. 1)  und damit seine Folgerung hinsichtlich der Bedeutung von Technologie ebenfalls. Mindestens ebenso wenig kann ich seiner Sichtweise der Gesellschaft ohne Einteilung in Klassenlagen folgen und auch die Vernachlässigung, wer wieviel CO2 verbraucht. Aber richtig ist, dass in dieser Gesellschaft sich die betriebswirtschaftliche Produktion nur an dem Prinzip G – G‘ (aus Geld soll mehr Geld werden) orientiert und damit permanentes Wachstum voraussetzt. Damit erscheint unwahrscheinlich, dass die sicher stattfindende wachsende Entkopplung von CO2-Verbrauch und Produktivität irgendwann einmal in einen Zustand mündet, der CO2-Neutralität bedeutet. Die aktuell zu beobachtende Entkopplung wird sich deshalb ab einem bestimmten Punkt verlangsamen bzw. einem Plateau nähern. Insofern wird Klima- und biologische Diversitätsneutralität ohne eine Veränderung von Lebenspraxen nicht zu erreichen sein (jedenfalls nicht in einem Zeitraum, der noch zur Verfügung steht, um das Schlimmste zu verhindern).

Ohne ein anderes gesellschaftliches Naturverhältnis keine Veränderung der Lebenspraxen

Lebenspraxen verändern sich nicht durch finanzielle Umverteilung und auch nicht durch Appelle. Sie sind vielmehr eingeschrieben in die Strukturen, die die Menschen für ihre Leben vorfinden. Diese Strukturen werden maßgeblich durch Arbeit bestimmt. Und wenn G – G‘ das maßgebliche Prinzip ist, welches die Arbeitsprozesse und -inhalte ausrichtet, dann hat das auch erhebliche Auswirkungen auf die Lebenspraxen. Faktisch merkt man das, wenn man in eine Fabrik geht, die im internationalen Wettbewerb steht, oder in ein Krankenhaus, das Eigentum einer Kommune ist. Die Arbeitsstrukturen und Denkweisen der Beschäftigten sind sehr unterschiedlich. Wenn G – G‘ das einzig relevante Prinzip ist – wie in konkurrenzfähiger Produktion –, dann stellen alle Einschränkungen des Produktionsvorgangs nur zusätzliche Kosten dar. Dazu zählen die schwankende Konstanz und eingeschränkte Geschwindigkeit der Arbeitsentäußerung ebenso wie jede nicht direkte Zugänglichkeit von Rohstoffen, alle zusätzlichen Kosten durch Abfallprodukte (ob während der Produktion oder nach Verkauf der Produkte) und alle anderen Naturbeschaffenheiten (z. B. Infrastruktureinschränkungen durch Berge, Flüsse usw.). Der der Gesellschaft entbettete Maßstab G‘ macht diese „Besonderheiten“ oder natürlichen Voraussetzung zu geldwerten Hindernissen, die durch Anwendung von Technik überwunden bzw. beherrscht werden müssen. Marx hat das mal die technische Zusammensetzung des Kapitals genannt, die sich parallel zur organischen entwickelt, und im Kern jede Eigenständigkeit eines Vollzugs von Arbeitstätigkeit aufzuheben bestrebt ist. Mit anderen Worten: die ein rein naturbeherrschendes Prinzip verfolgt, in denen auch die Menschen bloße Objekte sind, was ihnen durch den Lohn ein wenig vergütet wird. Ohne hier zu einer Änderung zu kommen, wird sich das zerstörerische Verhältnis der Gesellschaft zur Natur nicht ändern. Also konträr zu den drei vorhandenen Statements würde ich sagen: Ohne ein anderes gesellschaftliches Naturverhältnis keine Veränderung der Lebenspraxen und dafür ist eine deutliche Begrenzung von G – G‘ unmittelbare Voraussetzung. Ein anderes Naturverhältnis enthält z. B. die Konsequenz, Natur als eigenes Rechtssubjekt in der europäischen Verfassung zu verankern, wie es in einigen südamerikanischen Gesellschaften aufgrund des Drucks der indigenen Bevölkerung bereits geschehen ist. Diese Denkweise erzeugt im Übrigen wenigstens teilweise auch einen anderen Begriff von Wissenschaft: nicht einen solchen, wo durch entsprechenden Einsatz von Energie und Arbeit ein Zusammenhang erzeugt wird, der dann als Fakt gilt. Sondern ein Vorgehen, wo die verschlungenen Prozesse des Wechselspiels zwischen Substanzen, Pflanzen und Tiere als stabile Zusammenhänge erkannt werden. Schönes Beispiel dafür: Bäume wachsen nicht dann am besten, wenn man sie nach bestimmten Standardmetern voneinander entfernt einpflanzt und alle potenziellen Schädlinge zwischen ihnen entfernt („Forstwirtschaft“). Sie wachsend am besten, wenn sie als Ensemble aufgefasst werden, welches zudem mit anderen Pflanzen (z. B. Pilzen) interagiert (vgl. hierzu Suzanne Simard: Finding the Mother Tree, 2021).

Zielpunkt: dezentral aufgebaute Gemeinsamkeitsproduktion

Die Macht des Prinzips von G – G‘ wird begrenzt, wenn größere Anteile der gesellschaftlichen Produktion vergesellschaftet sind (siehe Irene). Sie ist damit aber nicht gebrochen, weil durch fortbestehende Konglomeration Machtstrukturen bleiben und im gewissen Maße an die Stelle G – G‘ nur staatlich forcierte Effektivitätsplanung tritt. Formale Vergesellschaftung ermöglicht mehr Veränderung an Lebenspraxen, ist aber nicht hinreichend, diese herbeizuführen. Ich schlage deswegen vor, als zweiten Zielpunkt einer linken Klima- und Ökologiepolitik einen Bereich nicht zentral organisierter (bzw. maximal dezentral aufgebauter) Gemeinsamkeitsproduktion zu diskutieren. Dieser Bereich könnte z. B. die Produktion und Konsumtion von Strom als Common umfassen. Also keine Großkraftwerke mehr für die Standardproduktion von Elektrizität, sondern nur als back-up-Möglichkeit. Dafür entstehen überall dort, wo es möglich ist, kleine Solaranalagen, ob auf Dächern, im Boden von Plätzen oder auf Balkonen, kleine Windkraftanlagen (kommunal, aber auch als Kleinstanlagen auf Dächern oder als Teil von Balkongitter), kleine Speicher in Häusern und Autos und größere in Energiegenossenschaften (siehe Ulrich). Stromerzeugung wird damit ähnlich wie Photosynthese in der Natur, nicht zentralisiert, sondern omnipräsent und damit auch nicht aneignenbar (kein G – G‘ möglich) oder als Arbeitsprozess hierarchisch organisierbar.  

Beginn einer neuen Definition des Natur- und Diversitätssubjekts

Auch wenn dieser Projektvorschlag auf den ersten Blick arg utopisch klingen mag - technisch sind die Voraussetzung im wachsenden Maße gegeben: niedrige Kosten für Solarmodule, die sogar als „Pflasterung“ für Straßen taugen könnten, zunehmende Effektivität von Kleinstwindenergieanlagen, die in jedem Garten stehen können, technische Lösungen für die Speicherung von Energie, z. B. in Form von Kieselsteinhaufen („Carnot Batterie“), wachsende Einsicht und Steuerbarkeit in für die Verteilung und den Ausgleich notwendigen komplexen Netzwerkstrukturen durch Fortentwicklung der Mathematik und künstlichen Intelligenz. Direkt im Gegensatz zu Niko würde ich also sagen: Aufklärung und Technologie sind nicht am Ende, sondern gerade erst im Beginn einer neuen Definition ihres Natur- und Diversitätssubjekts. 

Zwei Vorteile

Zwei Vorteile hätte dieser utopisch klingende Vorschlag: Erstens würde er die Selbsttätigkeit und -verantwortlichkeit aller Menschen betonen. Denn ohne diese beiden funktionierte er nicht, was nichts anderes heißt, als dass sich Lebenspraxen verändern in Richtung Fürsorge und Kooperation. Auch dafür scheinen die Grundvoraussetzungen vorhanden zu sein, wirft man z. B. einen Blick auf die Zahl der Balkonkraftwerke. Zweitens macht er ein Angebot an alle, die sich primär für Technik und Fortschritt begeistern, aber trotzdem gerne für ein nicht private Interessen verfolgendes gesellschaftliches Ziel arbeiten wollen und die Notwendigkeit eines anderen Verhältnisses zur Natur einsehen. Auch dies hätte eine unmittelbare Wirkung auf Lebenspraxen. Politisch gesehen würde er allerdings bedeuten, dass das G – G‘ Prinzip in der Energieproduktion gegen die Interessen dieser Industrie überwunden werden müsste, was im übrigen linker Politik ziemlich gut entspricht.

Anm. 1: Siehe https://www.oecd.org/industry/ind/carbondioxideemissionsembodiedininternationaltrade.htm