Wohin geht’s: zum digitalen Stallburschen oder zur künstlich-intelligent gestützten Lebenskunst?
verfasst von Helmuth english version version francaise
Vor 40 Jahren löste die Mitteilung, man habe eine Nachricht mit einer E-mail verschickt, ein verwundertes Lächeln aus. Ungefähr 15 Jahre später gab es die ersten Dorfvereine, die nur noch per E-mail zu erreichen waren. Weitere 15 Jahre später war das Schnurtelefon kaum mehr käuflich erhältlich und ein Lexikon aus Papier eine Rarität. Inzwischen ist Bezahlen mit Geld fast out und das Schreiben mit der Tastatur statt durch Spracheingabe wird wohl das nächstes „Opfer“ der Entwicklung sein.
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Inzwischen lauert oder existiert die digitale Knechtschaft.
Z. B. bei Amazon durch eine komplette Überwachung aller Bewegungen im Lager durch den individuellen Scanner mit Bewegungsprofil. Und tägliche oder wöchentliche Rückmeldung über die gelaufenen Kilometer. Oder bei der Pflege die Überwachung jedes einzelnen Pflegeschritts an PatientInnen und alten Menschen und die „Bestrafung“ jeder überflüssigen Zuwendung durch Abzug von der Arbeitszeit. Oder bei Lieferdiensten die Lokalisierung und das Bewegungsprofil beim Ausbringen von Waren.
Zunehmend überwacht wird auch unsere Bewegung in der Öffentlichkeit außerhalb der Arbeit. In London werden täglich über 940.000 Kameras zur Videoüberwachung eingesetzt, schätzen Studien (prozentual mehr als in Peking). Die Londoner werden im Schnitt 70-mal pro Tag gefilmt - in der Londoner U-Bahn fast lückenlos. Zusammen mit Gesichtererkennung und Handy-Einlog-Daten sorgt das für unser Auffinden, wo immer wir von einer Kamera gefilmt werden.
Die Knechtschaft ist aber auch subtiler. Durch Registrierung jedes Internet-Klicks und das Bilden von Profilen für die Beantwortung der Fragen, welche Waren angeboten werden sollten, welcher Denkanstoß gegeben werden könnte, auf welche Internetseite verlinkt wird, wie die Auswahl der nächsten vom Musikanbieter vorgeschlagenen Lieder vorgenommen wird usw. usw. Das, was wir denken und entdecken könnten, wird vorgegeben durch das, was die künstliche oder auch gar nicht so künstliche Intelligenz darüber denkt, was gedacht und entdeckt werden sollte.
Die, die an dieser Digitalisierung arbeiten, befinden sich in einem gläsernen Käfig. Scheinbar frei, hundert Prozent Home-Office mit hohem Einkommen und KollegInnen in Osteuropa, USA und Indien, die man nie wirklich kennenlernt. Aber gleichzeitig mit permanenter Rufbarkeit und vor allem mit einem wahnsinnigen Verlust von erlernten Fähigkeiten. Die Weise, wie heute eine Software entwickelt wird, ist in 10 Jahren veraltet und die Konkurrenz untereinander ist weltweit.
Unsere digitale Knechtschaft ist Ursprung für Riesengewinne. Abbildung 1 zeigt den Zuwachs der Amazon-Aktie (schwarze Kurve) und Facebook-Aktie (grüne Kurve) über 10 Jahre, beide verzeichnen einen Zuwachs um annähernd 2000 %. Und Berkeley-Professor Gabriel Zucman betonte 2021 dazu: „Amazon, Facebook und Alphabet zahlen 12 bis 15 Prozent Steuern“. Und wie viel Prozent ist unser Einkommen seit 2013 gestiegen (siehe Abbildung) und wie viel Prozent Steuern bezahlen wir?
Und die Server, die die Daten enthalten, wie auch die künstliche Intelligenz, die sie organisiert und neu strukturiert, stehen irgendwo auf dieser Welt, gehören einzelnen Unternehmensgründern oder Aktiengesellschaften, sind keiner wirklichen Kontrolle unterzogen und können in der aktuellen Form auch kaum mehr kontrolliert werden, weil die Algorithmen nicht mehr verstanden werden.
Die nächste Welle der Digitalisierung rollt.
Sie nennt sich künstliche Intelligenz und bedroht bis zu 50 % der Arbeitsplätze. Und sie sammelt noch mehr Daten über uns. Das Ziel ist die Bildung von individuellen künstlichen Agenten. Die uns nicht nur die Musikfolge vorschlagen, sondern auch, was wir am Tag tun könnten, die unsere E-mails vorschreiben, unsere möglichen Urlaubsreisen raussuchen, uns das auf dem Bildschirm zeigen oder vorlesen, was wir gerne lesen und hören sollen. Mit der wir einfach reden, so dass wir keine Tastatur mehr brauchen. Und die uns gegen Langeweile und Einsamkeit hilft – weil sie uns „kennt“.
In den Betrieben ersetzt sie die Vorgesetzten, solange es nicht um sehr spezielle Angelegenheiten geht. Sie sagt uns am Nachmittag, wenn wir nach Hause gehen, wie schnell wir arbeiteten und dazu im Vergleich, was unsere KollegInnen geleistet haben. Und sagt auch gleich, was eine solche Arbeitsgeschwindigkeit für den weiteren Verbleib in der Firma bedeutet und an welcher Position. Gnadenlos „gerecht“ im Sinne der erbrachten Leistung, nicht achtend auf Alter, Geschlecht, individuelle Probleme. Nicht nur, dass MitarbeiterInnen permanent überwacht und auch künstlich „geleitet“ werden. Profiling erleben wir auch bei der Polizei und bei der Kreditvergabe. So absurd es klingen mag: Bald brauchen wir einen künstlichen „Agenten“, der uns dabei hilft, für dieses permanente Datensammeln eine stromlinienförmige künstliche Identität aufzubauen. Oder nur, um rauszufinden, ob ein Foto eine wirkliche Szene abbildet oder durch eine künstliche Intelligenz auf dem Smartphone zusammengestellt wurde.
Selbst wenn uns das gelänge: Manchmal irrt sich die künstliche „Intelligenz“ und dann hat das verheerende Folgen: So wurde bei Amazon kürzlich eine Reihe von Leuten durch die Unternehmenssoftware einfach gefeuert, da ihr Nichterscheinen vom System als fehlende Arbeitsleistung registriert wurde – und das, obwohl sie sich vorher offiziell krankgemeldet hatten. Krankschreibungen sind demnach in den Datenbanken des Online-Riesen „verschwunden“. Vorgesetzte werden nur in seltenen Fällen erreicht. Stattdessen müssen sich die MitarbeiterInnen durch einen Telefon-Dschungel kämpfen – meist ohne Erfolg. Man arbeite daran, die Fehlentscheidungen rauszufiltern, betont Amazon, das sei aber angesichts der Komplexität der eingesetzten Künstlichen Intelligenz schwierig.
Was wäre eine linke Forderung angesichts dieser Entwicklung?
Ganz allgemein wäre eine linke Forderung die Bewahrung von Freiheit: gegen jede Form digitaler Überwachung, ob bei der Arbeit oder außerhalb der Arbeit. Und wir brauchen Formen der öffentlichen Kontrolle oder Vergesellschaftung für Online-Speicher und internetbasierte künstliche Intelligenz.
Und dann die Forderung nach Gleichheit: Es kann nicht sein, dass Zugriff auf die Macht der künstlichen Intelligenz sich aufgrund von Reichtum und erreichtem Bildungsgrad ergibt (z. B. durch monatliche gestaffelte Zahlbeträge, mit einem Premiumtarif, der nur wenigen möglich ist).
Sowie die Forderung nach Fürsorge: Dazu gehört auch eine Routine des Vergessens in den Netzwerken. Denn jede/r kann sich ändern. Und eine physikalische Form der Abschottung zwischen Netzwerken. Nicht alle Informationen dürfen auch sofort überall auslesbar sein. Ohne diesen Schutz ist Privatheit nicht zu denken. Wie Häuserfenster Vorhänge haben sollten (wenn gewollt), sollten auch digitale Vorgänge abgeschirmt werden können. Wann immer man will.
Und natürlich die Forderung nach freier Kooperation: als gemeinsam geplante und umgesetzte Open-source-Projekte und als Entwicklung von Common-/Gemeinwohl-Gebrauchssoftware, die frei verfügbar ist und damit allen zur Verfügung steht (siehe z. B. open office, Linux und ähnliche Software).
Eben künstlich-intelligent gestützte Lebenskunst statt digitaler Stallburschenschaft!
Und was fordern die Alternativversager für Deutschland und anderswo für Europa?
Eigentlich nicht viel, außer: Datensparsamkeit: wunderbar, die Rückkehr zum analogen Fernsehprogramm wieder greifbar nahe!
Rückkehr zur Nationalstaatlichkeit: eher wohl ein wenig niedlich angesichts von 4000 Satelliten, die allein Elon Musk bereits im Weltraum hat, und den 3200, die Amazon jetzt hinterher schickt.
Und was fordern sie nicht? Den maximalen Einsatz für die „Schwächeren“ mit verbesserter Schulausbildung, z. B. durch anfängliche technische Online-Übersetzung des Unterrichts bei Migration oder gezielten Zusatzlernstoff für hochinteressierte SchülerInnen.
Verbot des digitalen Bewegungstrackings bei der Arbeit (ob als gelaufener Meter, Tastaturanschlag oder Liefermenge), im öffentlichen Raum und als polizeilich-politische Kontrolle.
Und für alle im IT-Bereich Arbeitenden: feste Anstellung statt Scheinselbstständigkeit, alle 5 Jahre bezahlte 6 Monate Intensivweiterbildung über technische Weiterentwicklungen.
Und endlich entsprechende Steuerbelastung für die Internet-Riesen.
Die AfD – nur eine Partei der Gutsituierten und gesellschaftlich Etablierten.