8.5. 2016, Beginn 11 Uhr: Buchvorstellung und Diskussion

Helmut Rehbock stellt das Buch von Jens Wissel „Staatsprojekt Europa – Grundzüge einer materialistischen Theorie der Europäischen Union” vor

Ort: ALSO, Donnerschweer Str. 55

Jens Wissel analysiert die europäische Integration aus der Perspektive einer materialistischen Staatstheorie. Er begreift die Europäische Union als ein Staatsprojekt, bei dessen Entwicklung und Gestaltung nicht nur verschiedene Einzelstaaten, sondern auch unterschiedliche gesellschaftliche Kräfte in diesen Staaten beteiligt sind.

 

Staatstheorie

Wissels Staatsauffassung bezieht sich stark auf die Theorie von Nicos Poulantzas. Dieser hat den bürgerlichen Staat weder als als reinen „geschäftsführenden Ausschuss der Kapitalistenklasse” verstanden noch als eigenständiges Subjekt, das über den Klassen schwebt. Der Staat reproduziert die Widersprüche zwischen den Klassen und Klassenfraktionen in seinem Inneren. In Anlehnung an Poulantzas versteht Wissel den kapitalistischen „Staat als komplexes Ensemble aus konkurrierenden Macht- und Entscheidungszentren. (...) Er besteht aus einem heterogenen Ensemble von Apparaten und kann allenfalls als einheitlicher Staat erscheinen ...” (S. 27). Der Staat wird nicht nur von der herrschenden Klasse, sondern von den Klassenwidersprüchen insgesamt geprägt. Deshalb finden auch Bedürfnisse der subalternen Klassen ihren - wenn auch abgeschwächten oder verzerrten - Ausdruck in staatlichem Handeln.

Der Staat ist jedoch nicht nur ein Produkt der sozialen Kämpfe, sondern er greift auch aktiv in die Organisation der Gesellschaft ein. Sein Rechtssystem ist die unerlässliche Grundlage für Produktion und Handel, also auch für die Regelung des Verhältnisses zwischen Arbeitern und Kapitalisten. Über die Institutionen von Erziehung und Bildung reproduziert und modifiziert er die Arbeitsteilung innerhalb der Gesellschaft. Der Staat erhält die soziale Ungleichheit in den Klassenbeziehungen, verbindet sie aber mit der rechtlichen und politischen Gleichheit aller Bürger als Staatsbürger und Mitglieder einer Nation.

Grundlage des staatlichen Handelns ist nach Wissel ein Staatsprojekt, dem wiederum ein hegemoniales Projekt zugrunde liegt. „In einem Staatsprojekt verdichten sich all die gesellschaftlichen Strategien, die sich auf die institutionelle Struktur der politischen Apparate beziehen und die versuchen, dem Ensemble auf die eine oder andere Weise eine kohärente Struktur zu verleihen.” (S. 28)

Wissel unterscheidet zwischen einem Staatsprojekt in der Genese, bei dem Staatsgebiet, Institutionen und Regeln der Auseinandersetzungen erst noch geschaffen werden, und einem Staatsprojekt in der Reproduktion, bei dem dies alles bereits vorhanden ist, aber den ökonomischen und sozialen Veränderungen angepasst werden muss (S. 28). Diese Unterscheidung betrifft auch die Europäische Union einerseits und ihre Mitgliedsstaaten andererseits.

Für Wissel verfügt ein intakter Staat über bestimmte Merkmale:

„Zur Struktur eines kohärenten Staates gehören also 1. ein hegemoniales Staatsprojekt, 2. eine Zivilgesellschaft, in der um gesellschaftliche Hegemonie und asymmetrische Kompromisse gerungen werden kann, 3. eine relative Autonomie des Staates und seiner Apparate gegenüber mächtigen privaten Akteuren, 4. ein Territorium, das ein Innen und ein Außen schafft, und 5. ein Gewaltmonopol, das verhindert, dass die widersprüchlichen Interessen gewaltförmig ausgetragen werden.” (S. 34)

 Im Verlauf der Schaffung eines europäischen Binnenmarktes haben sich die Bestrebungen zur Entwicklung europäischer Staatlichkeit verstärkt. Die so entstandene Europäische Union ist bereits mehr als ein Staatenbund. Sie wird nicht nur von intergouvernementalen Gremien repräsentiert (vor allem vom Rat der Europäischen Union, auch Ministerrat genannt), sondern sie verfügt auch über supranationale Institutionen, z. B. die Kommission als Exekutivorgan, den Europäischen Gerichtshof und das Europaparlament. Allerdings ist nach Wissel eine Zivilgesellschaft auf europäischer Ebene kaum entstanden, allenfalls die „Think Tanks” und die Lobbyisten der großen Unternehmen kann man als zivilgesellschaftliche Elemente bezeichnen. In den Staaten der Europäischen Union bilden die Parteien nur eine sehr schwache Verbindung zwischen den Staatsbürgern und den europäischen staatsähnlichen Apparaten. Eine hegemoniale Verankerung von Macht ist demnach auf der europäischen Ebene nicht vorhanden. Interessen der subalternen Klassen kommen oft nur vermittelt über nationale Staatsapparate zum Tragen.

Hegemonie

In Wissels Staatstheorie ist eine bestimmte Auffassung von Hegemonie enthalten, die von Gramscis Hegemonie-Begriff ausgeht. Hegemonie meint demnach politische Führung und geistig-kulturelle Führerschaft einer Klasse oder sozialen Gruppe gegenüber anderen Klassen. Für Gramsci ist Hegemonie mehr als nur die ideologische Beeinflussung der „subalternen Klassen“ durch die Herrschenden, sondern sie schließt auch materielle, ökonomische Zugeständnisse an diese Klassen ein. Die hegemoniale Klasse erfüllt zwar auch Bedürfnisse und Anliegen der subalternen Klassen, sie integriert sie aber in ihr Programm zur ökonomischen und sozialen Entwicklung der gesamten Gesellschaft.

Die Hegemonie einer Klasse erstreckt sich nicht nur auf den Staat im engeren Sinne, sondern auch auf die Zivilgesellschaft, also auf alle Privatpersonen und ihre Vereinigungen, in denen sie wirtschaftliche und kulturelle Ziele verfolgen. Damit ist ein weites Spektrum angesprochen, von Kirchen über Gewerkschaften bis hin zu Sportvereinen. In diesen nichtstaatlichen Institutionen wird Hegemonie vorwiegend durch Konsens hergestellt, dagegen kann die staatliche Komponente der Hegemonie auch auf den Zwang zurückgreifen, der auf dem staatlichen Gewaltmonopol beruht.

Da die Europäische Union kein Staat, sondern ein Staatsprojekt in der Genese ist, gibt es nach Wissel auf dieser Ebene keine komplett ausgestaltete Hegemonie, sondern lediglich konkurrierende Hegemonieprojekte, abgeleitet von den in den einzelnen Staaten und Gesellschaften bestehenden hegemonialen Verhältnissen. Einfluss und Macht dieser Projekte sind unterschiedlich stark, aber ein einzelnes Hegemonieprojekt kann die anderen Projekte nie gänzlich ausschalten. Deshalb spiegelt die konkrete Politik auf der EU-Ebene die Gesamtheit der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse wieder, einschließlich der Bestrebungen der subalternen Klassen und der weniger mächtigen Klassenfraktionen.

Wissel unterscheidet auf EU-Ebene fünf Hegemonieprojekte:

  1. Das neoliberale Hegemonieprojekt. Die Integrationsbestrebungen europäischer Staaten reichen bis in die 1950er und 1960er Jahre zurück. Nach der Krise des Fordismus in den 1970er Jahren setzte sich im Westen mehr und mehr die Wirtschaftspolitik des Neoliberalismus durch. Diese tritt ein u. a. für Deregulierung des Arbeitsmarkts, für höhere Mobilität der Arbeitskräfte und für den Abbau von Sozialleistungen. Im Bereich der europäischen Integrationspolitik entstand so das neoliberale Hegemonieprojekt. Die soziale Basis des Projekts besteht laut Wissel aus den Arbeitgeber- und Industrieverbänden und den großen Unternehmen, die durch Waren- und Kapitalexport stark mit ausländischen Kapitalen verflochten sind (S. 68). Dieses Projekt verfügt - gegenüber den anderen Hegemonieprojekten - über die größten materiellen Ressourcen und wird von den einflussreichsten Ökonomen vertreten. Man ist sich einig in der Ablehnung einer umverteilenden Sozialpolitik, es gibt aber unterschiedliche Positionen darüber, ob eine neoliberale Strategie eher im europäischen Rahmen oder besser im nationalen Rahmen umgesetzt werden sollte. Vertreter der letzteren Position gehen oft Bündnisse mit Teilen des konservativen Projekts ein.
  2. Das konservative Hegemonieprojekt ist eigentlich die Summe der nationalen konservativen Projekte, denn die „grundlegende Strategie bezüglich der europäischen Integration besteht in der Verteidigung der nationalen Identitäten und der Souveränität der europäischen Nationalstaaten” (S. 69). Dieses Projekt orientiert sich am Leitbild eines starken Staats, an alten Traditionen, dem Christentum, einem patriarchalischen Familienbild und bestimmten Vorstellungen von Heimat und Sicherheit. Überfremdung soll verhindert werden durch eine effektive Grenz- und Migrationskontrolle. Die soziale Basis des Projekts bilden kleine und mittelständische Unternehmen, die stark auf regionale und nationale Märkte ausgerichtet sind sowie Teile der Mittelschicht und auch Teile der Arbeiter. „Den Kern des Projekts bilden die klassischen christlichen Milieus.” (S. 70). Dazu gesellen sich unterschiedliche rechtspopulistische Bewegungen und Parteien. Dieses Projekt ist nicht so gut mit Ressourcen ausgestattet wie das neoliberale Projekt. Es stützt sich auf die konservativen Parteien und Stiftungen (z. B. Konrad-Adenauer-Stiftung) und Teile der Medien (FAZ, Bildzeitung). Beim Abbau von Sozialleistungen gehen Vertreter des Projekts oft Bündnisse mit dem neoliberalen Projekt ein, sie lehnen aber soziale Sicherungssysteme nicht grundsätzlich ab. 

  3. und 4.) Das soziale Hegemonieprojekt strebt Verbesserungen der Lage der „sozial Schwachen” an und tritt ein für den Abbau von Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen. Das schließt Umverteilung durch den Staat ein, ist also den Zielen des neoliberalen Projekts direkt entgegengesetzt. Die soziale Basis besteht vor allem aus gewerkschaftlich organisierten Arbeitern und christlich-sozial orientierten Kräften. Maßgebend ist die „Vorstellung, dass gesellschaftliche Teilhabe und soziale Rechte über Lohnarbeit erworben werden” (S. 71). Dem soziale Hegemonieprojekt geht es um die Wahrung der Arbeitnehmerrechte und die Abwehr von Sozialabbau. In Bezug auf die europäische Integration und die Migrationspolitik ist es aber gespalten. 

    Das proeuropäische soziale Hegemonieprojekt will soziale Standards in einem europäischen Rahmen verteidigen und ausbauen. Allerdings gibt es auf Europa-Ebene nur sehr wenige „zivilgesellschaftliche oder korporatistische Strukturen für die Aushandlung von Kompromissen” mit Unternehmern und Politikern (S. 72).

    Das national-soziale Hegemonieprojekt will den Sozialstaat im Rahmen der Nationalstaaten bewahren und verbessern. Die europäische Integration wird als Mittel neoliberaler Deregulierung gesehen und daher in Teilen abgelehnt. 

    5.) Das linksliberal-alternative Hegemonieprojekt strebt die Ausweitung von Bürger- und Menschenrechten an, auch für Minderheiten und Migranten. Die politischen Rechte sollen mit sozialen Rechten verknüpft werden, unabhängig von der Rolle der Menschen im Arbeitsleben. Das traditionelle Geschlechterverhältnis soll zugunsten einer umfassenden Gleichstellung überwunden werden. Als Basis des Projekts sieht Wissel Teile der Ökoindustrie, der Alternativökonomie und der IT-Unternehmen an, vor allem aber die neuen sozialen Bewegungen. Politisch vertreten wird das Projekt von Linksliberalen, Grünen und Teilen der Linken. Die ökonomischen Ressourcen des Projekts sind eher gering, aber seine intellektuellen Träger sind hoch professionell und stark vernetzt und haben daher einen gewissen Einfluss in Wissenschaft, Bildung und Medien. 

Beschlussfassung in den Gremien der EU

Der dritte Teil von Wissels Buch enthält einen Überblick über die Geschichte der europäischen Integration, also auch über die Entstehung der europäischen Institutionen. Von einer Europäischen Union kann man erst nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht sprechen, also seit 1993. In diesem Vertrag wurde auch erstmals eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik vereinbart, und mit Europol begann damals der Aufbau einer europäischen Polizeibehörde (S. 119). 2004 wurde die europäische Grenzschutzagentur Frontex gegründet und damit potentiell das europäische Territorium wesentlich stärker nach außen abgegrenzt. 

Im vierten und letzten Teil werden drei Fallstudien vorgestellt: erstens zur europäischen Staatsbürgerschaft, zweitens zur Anwerbung von "Hochqualifizierten" und zur Care-Arbeit und drittens zur Grenzschutzagentur Frontex. Alle drei Studien betreffen Themen, die eng zusammenhängen: den Arbeitsmarkt, soziale Rechte, die Migrationspolitik und die Sicherung der Außengrenzen. Wissel zeigt auf, wie sich die verschiedenen hegemonialen Projekte auf diesen Politikfeldern verhalten und wie neue Regelungen auf EU-Ebene als Kompromisse der verschiedenen Akteure entstanden sind. 

Eine wichtige, aber kaum bekannte Rolle spielen dabei die Arbeitsgruppen des Ausschusses der Ständigen Vertretungen der Mitgliedsstaaten. Diese sind Teil der Substruktur des Ministerrats, ihr Personal wird von den jeweiligen Regierungen nach Brüssel delegiert. Der größte Teil der Entscheidungen des Ministerrats wird bereits auf der Ebene der Arbeitsgruppen abschließend behandelt, die Zustimmung des Ministerrats ist dann nur eine Formsache. „Bei den Verhandlungen in den Arbeitsgruppen des Rates wirken die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und damit die Hegemonieprojekte über die beteiligten Staatsapparate und die Kommission in vermittelter und gefilterter Form” (S. 145). Die Zusammensetzung der zuständigen Arbeitsgruppe „entscheidet darüber, in welcher Weise die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in den Verhandlungsprozess eingehen” (S. 146). Bei den Themen der drei Fallstudien waren es meistens Delegierte aus den Innenministerien der Mitgliedsstaaten, die in den Arbeitsgruppen federführend wirkten, also den stärksten Einfluss ausübten. „In den nationalen Innenministerien wiederum verdichten sich vornehmlich national-konservative Kräfte, so dass sie oft als Stützpunkte des konservativen Hegemonieprojektes angesehen werden können” (S. 146). 

Aber auch die anderen Hegemonieprojekte waren an den Beschlüssen der Europäischen Union beteiligt. Für die Anwerbung der Hochqualifizierten setzten sich vornehmlich die Vertreter des neoliberalen Hegemonieprojekts ein, während die meisten europäischen Gewerkschaften forderten, man solle statt dessen die einheimischen Arbeitskräfte entsprechend ausbilden. Wissel rechnet diese Stellungnahmen dem national-sozialen Hegemonieprojekt zu, weil die Gewerkschaften vor allem durch Konsultationsverfahren in den Arbeits- und Sozialministerien der Mitgliedsstaaten ihren Einfluss geltend machten. Er erwähnt allerdings auch die Stellungnahmen, die sich für eine Liberalisierung der Migrationspolitik aussprechen. 

Die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse auf der Ebene der 28 Mitgliedsstaaten waren in den jeweiligen Auseinandersetzungen sehr unterschiedlich. Wissel beschränkt sich in seinem Buch auf konkrete Beispiele in Deutschland, Großbritannien und Spanien. Auch an diesen Beispielen kann er deutlich machen, dass eine materialistische Theorie der Europäischen Union ein tieferes Verständnis ihrer Konflikte und Einigungen ermöglicht.