Dieter Sauer – Flexibilisierung der Arbeitswelt

(eingestellt von Sabine)

 

 

Die Arbeitssituation der Beschäftigten ist durch Ambivalenzen gekennzeichnet: Den höheren Gestaltungsspielräumen und den vielfältigeren subjektiven Entfaltungschancen steht die forcierte Extensivierung und Intensivierung der Arbeit gegenüber. Es wird „mehr“ gearbeitet als „früher“, der Arbeitsdruck ist „größer“, die Arbeit ist „stressiger“ und nimmt einen deutlich größeren Raum „im Leben“ und „in den Köpfen“ der Beschäftigten ein. Während sich somit subjektiv-arbeitsweltliche Anforderungen und Bedürfnisse der Beschäftigten offensichtlich leichter realisieren lassen, kommen ihre subjektiv-lebensweltlichen Anforderungen und Bedürfnisse immer häufiger zu kurz.

Für die Veränderung der Arbeitssituation sind jedoch nicht nur diese unmittelbaren – und hochgradig ambivalenten – Folgen selbstorganisierter und flexibilisierter Arbeit entscheidend, maßgeblich beeinflußt wird die individuelle Arbeitssituation auch durch die neuen Prinzipien der Reorganisation und der Personalpolitik der Unternehmen. Beobachtbar ist erstens, daß die Reorganisation zunehmend „auf Dauer gestellt“, zur permanenten Reorganisation wird. Daraus resultieren nicht nur zusätzliche Anforderungen an die Beschäftigten, dies geht in prinzipieller Weise mit einer wachsenden Unsicherheit einher. Zweitens sind die Beschäftigten im Zuge der Internalisierung des Marktes unmittelbarer mit den marktlichen Anforderungen konfrontiert, deren Bewältigung ihnen im Rahmen einer indirekten Steuerung immer mehr selbst überlassen bleibt. Das Management tritt gegenüber dem Markt in den Hintergrund, der „Kunde“ ersetzt zunehmend den Vorgesetzten, die Abstimmung von Anforderungen und den zu ihrer Bewältigung notwendigen Ressourcen wird mehr und mehr Aufgabe der Beschäftigten. Gleichwohl setzt das Management nach wie vor die entscheidenden Rahmenbedingungen: Diese bestehen insbesondere in Vorgaben bzw. Kennziffern (Terminen, Budgets, Umsatzzielen etc.) und in der Rahmensteuerung der (Personal-)Ressourcen. Da die Unternehmen insgesamt mit wachsenden Anforderungen konfrontiert sind, zugleich aber zum größten Teil eine eher restriktive Personalpolitik an den Tag legen, sind die Unternehmen gewissermaßen als Ganzes „überlastet“. Angesichts indirekter Steuerung und systematisch knapper Personalressourcen wird die Überlastung des Unternehmens zur individuellen Überlastung: Selbstorganisation ist dann meistens das (Selbst-)Management von Überlastung. Da die Beschäftigten die „Anforderungsseite“ kaum beeinflussen können, bleibt ihnen fast zwangsläufig nur der Rückgriff auf ihre eigenen Ressourcen. Überlastung zu bewältigen heißt dann aber fast immer: Selbstrationalisierung und (Selbst-)Flexibilisierung der Ressource „Zeit“.

Die beschriebenen Ambivalenzen sowie der spezifische Rahmen entgrenzter Arbeit stellen eine gestaltungsorientierte Arbeitspolitik vor Dilemmata, für die es keine einfachen Antworten gibt: Erstens sind die betriebspolitischen Akteure in ihrer Handlungsfähigkeit begrenzt, weil die entscheidenden Einflußfaktoren „von außen“ kommen (Markt, Konzernpolitik) und selbst kaum beeinflußbar scheinen. Das erklärt den betriebspolitischen Schulterschluß gegenüber dem betrieblichen „Außen“, zugleich aber auch die Grenzen verbetrieblichter Arbeitspolitik. Zweitens greifen die vorhandenen Instrumente mehr und mehr ins Leere, weil sie der realen Ausdifferenzierung von Interessen, Bedürfnissen und (Arbeits- wie Lebens-)Lagen nicht gerecht werden und weil die Trennlinien zwischen Chancen und Risiken häufig quer dazu liegen. Drittens lassen sich angesichts der wachsenden Heterogenitäten innerhalb der Belegschaften kaum mehr gemeinsame Interessen ansprechen und zur Grundlage arbeitspolitischer Gestaltung machen.

Einen Ausblick gibt die Studie auf zwei mögliche interessenpolitische Optionen, die sich unmittelbar aus den Merkmalen entgrenzter Arbeit ergeben:
Erstens ist deutlich geworden, daß neue arbeitskraftorientierte Rationalisierungsstrategien die aktive Beteiligung der Beschäftigten voraussetzen. Höhere Gestaltungsspielräume, individuelle Entfaltungschancen, die selbstbestimmte Vereinbarkeit von Arbeit und Leben etc. sind daher auch ein notwendiges Angebot an die Beschäftigten, das sich zugleich aber immer wieder an der individuellen Überlastung, den eingeschränkten Gestaltungsspielräumen, der begrenzten Selbstbestimmung etc. bricht. Die neuartigen Ambivalenzen von Freiheit und Zwang im Arbeitsprozeß sind somit zugleich die Basis systemimmanenter Widersprüche, die es interessenpolitisch zu artikulieren gilt.
Zweitens wurde sehr deutlich, daß es über alle Unterschiede in der Arbeitssituation hinweg so etwas wie die gemeinsame Forderung nach einem „Normalleben“ gibt. Als allgemeinste Formulierung beinhaltet dieser Anspruch vor allem die Vorstellung einer begrenzten Verschränkung von Arbeit und Leben, von Person und Arbeitskraft und somit auch des Schutzes einer Lebenssphäre, die nach anderen als ökonomischen „Logiken“ gestaltet und gestaltbar ist. Nach unseren Befunden dürfte somit dem Prinzip der De-Kommodifizierung von Arbeitskraft weitgehend ungeteilte Zustimmung zukommen: also der Forderung nach einer Absicherung gegenüber ökonomischen Risiken, genauso aber auch nach Grenzen der Ökonomisierung von Person und Lebenswelt. Entscheidend ist dabei jedoch, daß sich die Forderung nach einem „Normalleben“ weniger an der Form, sondern eben vor allem am Prinzip festmacht: Erstens zielt die traditionelle Form der Trennung von Arbeit und Leben und der Standardisierung dieser Trennung ebenso an den individuellen Bedürfnissen vorbei, wie sie der differenzierteren Landschaft aus Lebensstilen und –entwürfen (und deren zeitlicher Instabilität) immer weniger gerecht wird. Zweitens macht sich die Trennung zwischen Arbeit und Leben nicht mehr so einfach an räumlichen oder zeitlichen Grenzziehungen fest, sondern liegt im Zweifel quer dazu. Eine Zukunftsaufgabe für Arbeitspolitik dürfte dann gerade darin liegen, dem Prinzip der De-Kommodifizierung von Arbeitskraft (wieder) eine Form zu geben.