von Joachim Sohns

Der bisherige Aufschwung und der Touristenboom fußen auf prekären Löhnen: In der Privatwirtschaft verdient etwa ein Drittel unter 800 Euro brutto, jeder achte sogar weniger als 500 Euro (12,27 %). 22,8% verdienen zwischen 800 und 1.000 Euro brutto – bei ähnlichen Preisen wie in Deutschland. Bei jedem dritten neuen Job handelt es sich um Teilzeitarbeit, die meist lediglich mit einem Lohn zwischen 300 und 400 Euro verbunden ist.

Die meisten Beschäftigten im Tourismus, die in der Regel saisonal arbeiten, verdienen nur den monatlichen Mindestlohn von 830 Euro brutto bzw. den Nettolohn ab 706 Euro. Doch viele flüchten inzwischen aus diesen Jobs, die Hoteliers suchen händeringend nach Arbeitskräften.

Inflation frisst Kaufkraft

Gleichzeitig raubt die Inflation Kaufkraft: 2023 lag die Teuerung bei Lebensmitteln bei 8,3 %. Im Februar 2024 wurde berichtet, dass der Preis für Olivenöl um 58,5 %, für Obst und Gemüse um 14 – 15% und für Arzneimittel um 11,8 % gestiegen ist. Der Preis für eine Kilowattstunde hat sich im Vergleich zu 2020 verdoppelt. Die Folge: Viele sind armutsgefährdet. Der Aufschwung ist nicht bei den Beschäftigten angekommen. Die Reallöhne lagen 2022 fast ein Viertel unter dem Niveau von 2009. Damals entsprach das Pro-Kopf-Einkommen in Griechenland 95 % des EU-Durchschnitts. Heute sind es nur noch 68 %. Und auch sonst hat der Aufschwung relativ wenig gebracht: Die Wirtschaftsleistung liegt immer noch weit unter dem Vorkrisenniveau.

Wohnungsmisere

Die Krise hat Ankauf und Bau neuer Wohnungen abgebremst, viele, die die Kredite nicht mehr zahlen konnten, mussten und müssen ihre Häuser verlassen. Gleichzeitig hat das Interesse ausländischer Immobilieninvestoren ein neues Hoch erreicht. Kein Wunder, dass sich der Anteil der Mieterinnen und Mieter an den Wohnungsnutzer*innen in Hellas auf 26,7 % erhöht hat – 2015 betrug er nur 15,4 %. Doch seit 2018 sind die Mieten für Wohnungen, die gut für Familien geeignet sind, landesweit zwischen 37,2 % und 42,1 % gestiegen - die Kosten für Studentenwohnungen in Athen sogar um 53 %. Die Wohnkosten machen inzwischen für drei Viertel der Mieter*innen zwischen 40 und 70 % der Einkommen aus. Das hat Folgen:

Auszug von zu Hause immer später

Junge Griechinnen verlassen ihr Elternhaus lt. Eurostat im Durchschnitt erst im Alter von 29,2 Jahren – fast vier Jahre später als im EU-Durchschnitt -, junge Männer sogar erst mit 32,1 Jahren. Zum Vergleich: Junge Menschen in Finnland, Schweden und Dänemark ziehen durchschnittlich schon mit ca. 21 bis 22 Jahren aus. Griechenland wäre darauf angewiesen, dass mehr junge Menschen eine gute Ausbildung machen und studieren: Aufgrund des Braindrains in der Krise hat das Land neben Italien in Europa die höchste Überalterung der Bevölkerung. Sind Veränderungen in Aussicht, die das ermöglichen?

Immer mehr Schulden

Aufgrund der Vereinbarungen mit den EU-Banken ist Griechenland verpflichtet, im Haushalt Primärüberschüsse zu erzielen – so sollen die hohen Schulden zurückgezahlt werden. Solange diese Regelung gilt, sind die notwendigen Investitionen ins Bildungswesen, in Baukredite, in die Infrastruktur etc. nicht zu stemmen. Doch bisher sind die Schulden nicht gesunken, sondern gestiegen – 2010 hatte der griechische Staat einen Schuldenberg von 326 Mrd. Euro. Heute beläuft er sich auf 357 Mrd. Lediglich die Quote, der Anteil am Bruttosozialprodukt, ist aufgrund des Aufschwungs gesunken. Zudem werden ab Dezember 2032 die bisher gestundeten Zinsen - bis dahin wohl rund 25 Mrd. Euro - auf die Schulden angerechnet. Damit droht ein sprunghafter weiterer Anstieg der Schulden und der Refinanzierungskosten. Dazu dräuen im Hintergrund noch die 250 Milliarden an privaten Schulden gegenüber Banken, ganz zu schweigen von den Zahlungsrückständen von Unternehmen und Freiberuflern gegenüber dem Fiskus und den Sozialkassen, die 2023 auf 108 Milliarden Euro angewachsen sind.

Neoliberal – kein Ausweg

Allein die bisher genannten Zahlen verdeutlichen schon: Die Lösungsvorschläge der Marktliberalen, Privatisierer und Sozialsparer haben zwar gute Bedingungen für Investoren geschaffen, führen das Land aber nicht aus der Krise – und gleichen nicht die Einkommensverluste der Krise aus. Die Regierung Mitsotakis hat die Unternehmenssteuern von 29 auf 22 % und die Steuern auf Dividendengewinne von 10 auf 5 Prozent gesenkt - den drittniedrigsten Prozentsatz innerhalb der EU. Aber Griechenland verzeichnet bislang keinen Investitionsboom, der eine gesteigerte Produktivität zur Folge hätte. Immer noch fließen 73 Prozent der Investitionen in Beteiligung oder Aufkauf bestehender Unternehmen sowie in den Erwerb von Immobilien. Der größte Teil der Staatseinnahmen stammt aus von Verbraucher*innen bezahlten indirekten Steuern: Auf 1,00 Euro an direkten kommen etwa 1,80 Euro an indirekten Steuern (EU-Durchschnitt etwa 1:1). Zusammen mit den gesunkenen Einkommen sind das gerade nicht die Bedingungen, die die griechische Industrie zur Entwicklung braucht. Stärkster Wachstumsmotor in Griechenland ist traditionell der private Verbrauch. Er macht zwei Drittel des Bruttosozialprodukts aus, gegenüber 50 % im EU-Durchschnitt. Und für diesen Verbrauch produzieren hauptsächlich Firmen mit fünf oder sechs Beschäftigten - dreimal kleiner als im Durchschnitt in der Eurozone. Sie können nicht in den Export ausweichen. Das ist auch an dem griechischen Zahlungsbilanzdefizit zu erkennen, das 2022 mit 9,7 Prozent dokumentiert, dass das Land trotz steigender Exporte noch immer nicht genügend international handelbare Güter produziert. Hohe Investitionen des Staates, Ausbau des Sozialstaates und eine Veränderung der Steuer- und Einkommensstruktur wären das Gebot der Stunde, auch, um Mieter*innen und verschuldeten Hausbesitzer*innen Luft zu verschaffen. Doch neoliberal gesteuerte Politik und die Last der Schulden mit dem Zwang zum Haushaltsüberschuss verhindern dies. Erster Schritt in einen Ausweg wäre die Streichung der Schulden durch die EU. Damit würde nur offiziell anerkannt werden, was offensichtlich ist: Griechenland kann diese Schulden niemals zurückzahlen.