Dr. Carl Schultz, Texas (2. Version, 06.12.2016)

Der Brexit und die Rückkehr der Linken in Europa

(eine Fortsetung dieser Überlegungen findet sich unter: https://www.linkes-forum-oldenburg.de/alternativen/321-migration-ein-europaweites-alg-ii-commons-und-mimesis-ein-vorschlag-zur-guete.html

These 1

Der Brexit, der von der Mehrheit der UK Bevölkerung am 23.06.16 beschlossen wurde, stellt eine Zäsur in der Entwicklung der europäischen Union dar, folgt aus ihm doch das erste Mal eine Verringerung der europäischen Staatenzahl, während in den letzten Jahrzehnten die Zahl der aufgenommenen Staaten nur eine Tendenz kannte, nämlich zu steigen. Den Charakter einer Zäsur trägt der beschlossene Brexit weniger aufgrund der ökonomischen Folgen, die aktuell im Mittelpunkt der Diskussion stehen, sondern eher aufgrund der politischen Hintergründe, die zur der Brexit Entscheidung in UK geführt haben.

Zwar ist die ökonomische Bedeutung eines Ausstiegs von UK aus der EU nennenswert. Immerhin macht das BIP von UK knapp 15 % des EU weiten BIPs aus und immerhin umfassen die UK Transferleistungen in Richtung EU Haushalt 5 Mrd. Euro. Andererseits zeigen diese Zahlen aber auch, dass die Folgen des Brexit ökonomisch überschaubar sind, zumal niemand damit rechnet, dass alle Handelsverbindungen mit dem UK durch den Brexit gekappt werden. Und weiter gehört UK nicht zu den europäischen Kernländern, die führend die EU Integration vorangetrieben haben, und ist nicht Mitglied der Währungsunion, so dass der EURO durch den Austritt wenig tangiert wird.

Politisch wiegt die Entscheidung für den Brexit dagegen umso schwerer, weil sie das Ende der neoliberalen Hegemonie in den europäischen Machtzentren markiert, eine Hegemonie, die in den vergangenen Jahrzehnten die europäische Integration angetrieben, aber inzwischen ihre Massenbasis verloren hat. Insofern bedeutet der Brexit den Beginn einer längeren Phase neuer hegemonialer Blockbildung in Europa, deren Ausgang noch offen ist.

 

These 2

Wie sehr der Austritt UKs aus der EU eine Verschiebung der politischen Machtverhältnisse ist und weniger eine ökonomische Entscheidung wird schon dadurch deutlich, dass der Verbleib in der EU jedem britischen Staatsbürger 76,- EURO im Jahr gekostet hätte (Transferleistung in Richtung EU Haushalt pro Kopf). Dies ist wahrlich keine Zahl, die eine ökonomische Zwangslage begründen würde, zumal die meisten Tariferhöhungen der letzten Jahre mindestens die Hälfte dieser Summe pro Monat umfassten. Der eigentliche Hintergrund liegt also definitiv in dem langsamen Zerfall des neoliberalen Integrationsmodells, das Toni Negri mal mit dem treffenden Begriff des „Kommunismus des Kapitals“ gekennzeichnet hat. Dieses Modell implizierte ideologisch

  • „Gleichheit“ als scheinbare Chancengleichheit am Arbeitsmarkt
  • „Internationalismus“ als Migrationsfreiheit im Binnenmarkt und Einreißen von Freihandelsbarrieren
  • „Individuelle Befreiung“ als Rücknahme von Regulierungen, die individuelle Einschränkungen implizierten, im wesentlichen aber des Arbeitsmarktes und sozialstaatlicher Leistungen
  • „Absterben des Staates“ als Privatisierung der meisten Bereiche des Sozialstaates wie Rentenversicherung, Ausbildung und Gesundheitswesen.

 

These 3

Spätestens die Öffnung der Balkanroute, faktisch aber schon vorher die Öffnung der Migration für die osteuropäischen Länder bedeutete in der Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise und der anschließenden deutlichen Verschärfung der Austeritätspolitik eine wachsende Auflösung des neoliberalen Integrationsmodells.  Schon eine Bewältigung der europäischen Binnenmigration setzt entweder ein hohes ökonomisches Wachstum mit entsprechender Steigerung der Nachfrage nach Arbeitskräften in den Zentren der europäischen Kapitalakkumulation voraus. Oder eine europaweite Festlegung von Sozialstandards und Transferleistungen, die die Migrationsgründe wenigstens teilweise aufhebt, indem sie die sozioökonomische Spaltung entlang von Regionen und Landesgrenzen abmildert. Der durch die Einführung des Euros initiierte Bauboom in den südlichen und westlichen Ländern der EU brach aber infolge der Finanzkrise zusammen und verstärkte damit massiv die innereuropäische Binnenmigration, ohne dass die Länder der Zentren der Kapitalakkumulation eine komplementäre Schaffung von Arbeitsplätzen generieren konnten (mit Ausnahme von Deutschland vielleicht). Und gegen eine sozialpolitische Regulierung der Folgen der Finanzkrise standen und stehen die Grunddogmen des neoliberalen Herrschaftsblocks der EU. Letztlich bedeutete das Agieren dieses Blocks eine weitere Verschärfung statt eine Abmilderung der Migrationsursachen.

Die Folge dieser spezifischen Reaktion auf die Finanz- und Wirtschaftskrise, die andauernd niedriges ökonomisches Wachstum bedeutete, und der fehlende Wille einer Aufhebung der Austeritätspolitik führten fast zwangsläufig zu einer Erosion des neoliberalen Herrschaftsblocks. Gegen den „Kommunismus des Kapitals“ formierte sich der „Nationalismus des Sozialchauvinismus“, der im Kern für die Mehrheit der Bevölkerung bestimmter Regionen/Nationen einen sozialen Zugewinn verspricht, wenn die Freiheit der außer- und innereuropäischen Migration eingeschränkt wird, wenn bestimmte Aspekte der Individualisierung zurückgenommen werden und wenn neben die Nation wieder soziale Strukturen wie Familie und Gemeinschaft treten. Die „Rationalität“ dieser Ideologie basiert auf dem nicht abgefederten Druck, dem der Arbeits- und Wohnungsmarkt gerade in den unteren, eher handwerklich determinierten Segmenten durch Migration ausgeliefert ist. Und sie basiert auf der suggerierten Unterstellung, dass Entscheidungen der europäischen Zentralinstitutionen per se zentralistisch, bürokratisch und demokratisch unlegitimiert seien, wodurch sie die erlebte Verschlechterung der Lebensverhältnisse herbeiführen würden. Dadurch entsteht die Signifikanz eines „innen“ gegen „außen“ mit eines „unten“ gegen „oben“, deren Zugkraft den wachsenden Zulauf rechtsnationaler Bewegungen erklärt.  Immerhin ist es in den vergangenen Jahren nur dort zu sozialen Reformen und Verbesserungen gekommen, wo diese die politische Macht in den jeweiligen Nationalstaat übernommen haben, was gleichzeitig dort die reaktionären „innen“ gegen „außen“ Tendenzen noch einmal massiv verstärkt hat (siehe z.B. Polen und Ungarn). Der Brexit ist nicht mehr und nicht weniger als die natürliche Konsequenz aus dieser Tendenz.

 

These 4

Die spezifische Gestalt der vergangenen EU Hegemonie, d.h. der „Kommunismus des Kapitals“, bildete für die Linke in Europa eine erhebliche Schwierigkeit, ein eigenständiges politisches Projekt zu formulieren. Die Kritik an dem Demokratiedefizit der EU, wie sie z.B. in den Mittelpunkt gestellt wurde, erwies und erweist sich nur teilweise als richtig. Immerhin war und ist es die EU Kommission und nicht die nationalstaatlichen Regierungen, die sich klar gegen die politische Entwicklung in Polen und Ungarn gestellt hat. Zudem funktioniert die Signifikanten Kopplung zwischen „fern“ und „nah“ und „undemokratisch/zentralistisch“ und „demokratisch“, wie sie in den rechtspopulistischen Bewegungen formuliert wird, bedeutend einfacher als im Kontext einer linken Bewegung, die im Kern eine internationalistische Ausrichtung hat. Auch die Kritik am Bürokratismus der EU bricht sich an der von der linken Bewegung eingeklagten Notwendigkeit einer wachsenden europaweiten Regulierung z.B. der Produkte, die umweltschädlich sind, weil sie einen zu hohen Energieverbrauch haben. Die EU Kommissionen haben an verschiedenen Stellen eher die europaweite Verminderung des Schadstoffausstoßes und die ökologische Energiewende vorangetrieben als viele Nationalstaaten. Es ist z.B. Großbritannien, wo die Regierung inzwischen statt auf Kohle komplett auf Atomkraft für die Energiegewinnung setzt. Und es ist die polnische Regierung, die kein Klimaprotokoll unterschreiben will, weil sie den Braunkohleabbau und -verbrennung vorantreiben will. Last, but not least: es war und ist die EU, die die Freizügigkeit der Ware Arbeitskraft verteidigt(e), während die Nationalstaaten sich zunehmend dagegen sperrten. Gerade angesichts dieser Frage wird aber das Ausmaß des Erosionsprozesses der EU und des sie tragenden Machtblocks deutlich, weil sich (die meisten?) Nationalstaaten an die Vorgabe der EU in der Aufnahme von Flüchtlingen trotz geltender Verabredungen nicht halten und teilweise massiv europäische Binnenwanderungen zu unterdrücken versuchen, wenn ihre Länder zu Einwanderungszielen werden (siehe z.B. Camerons erfolgreiche Initiative in Richtung der Abschaffung von Sozialleistungen für Migranten; siehe Frankreichs Umgang mit Sinti und Roma).

 

These 5

Die spezifische ideologische Orientierung und Hegemonie des neoliberalen Blocks erschwerte damit die Formulierung einer linken und radikalen Alternative, zumal dieser Block bis vor kurzem so stark war, um jegliche faktischen sozialpolitischen Abweichungen durch finanzpolitische Restriktionen im Keime unterdrücken zu können (siehe Griechenland, siehe die aktuelle Intervention Schäubles in Richtung Portugal). Die scheinbar „unpolitische“ Regulierung der Schuldenkrise durch Austerität ermöglichte zudem eine ideologische Abwälzung der sozialen Folgen auf spezifische lokale Versäumnisse: statt der Frontstellung zwischen Opfern der Austerität und den für sie Verantwortlichen kam es zu einer Frontstellung der Bevölkerungen der Akkumulationszentren gegen korrupte Politiker und Staatsbeamte nicht konkurrenzfähiger nationalstaatlicher Ökonomien, in deren kreditfinanzierten Hängematte sich die Bevölkerung angeblich über Jahrzehnte ausgeruht hätte. Damit stand die Entwicklung einer linken internationalen Solidarität von Anfang an im Kontext einer ebenfalls internationalen (europaweiten) repressiven Intervention in die „unfinanzierbare“ nationalstaatliche Organisation von sozialen Rechten.  Zudem führte gerade die repressive Intervention der europäischen Machtzentren in die nationalen Haushaltspolitiken zu einer deutlichen Verbesserung der Einkommensverhältnisse in den Zentren der europäischen Kapitalakkumulation, deren exportorientierte Ökonomie durch den als Folge der Verschuldung einzelner europäischer Staaten niedrigen Euro befeuert wurde. Und die Niedrigzinspolitik der EZB implizierte eine deutliche Minderung der Belastung der Staatshaushalte mit Zinszahlungen, was kleinere sozialpolitische Zugeständnisse ermöglichte.

 

These 6

Der wachsende Verlust der Machtbasis des neoliberalen Blocks wird anhalten, weil ihm eine andauernde, objektiv ökonomische Macht zugrunde liegt: die Tatsache einer massiven Migration in die Akkumulationszentren, die wegen der ökonomischen Ungleichheit innerhalb Europas und den „gescheiterten“ Staaten außerhalb Europas nicht zum Erliegen kommen wird. Die Auflösung der Dominanz des neoliberalen Blocks bedeutet, dass die Machtstrukturen in der EU neu ausgehandelt werden müssen. Aus heutiger Sicht zeichnet sich eine Auseinandersetzung zwischen zwei Blöcken ab: der erste umfasst die meisten osteuropäischen Länder inkl. Deutschlands, das mit diesen Ländern ökonomisch massiv in Richtung Lieferung von Vorprodukten der Automobilproduktion und der Maschinenproduktion verbunden ist. Diese Produktionskette hat sich in den letzten Jahren derartig vertieft, dass ein Auseinanderbrechen dieses Blocks unmittelbare schwere ökonomische Konsequenzen für die beteiligten Länder bedeuten werden. Die sogenannte „Westintegration“ Deutschlands hat dagegen in ihrer ökonomischen Bedeutung während der letzten Jahre nachgelassen. Der zweite Block besteht aus den süd- und westeuropäischen Ländern mit Griechenland, Italien, Portugal und Spanien (je nach der dortigen aktuellen Entwicklung) und eventuell Frankreich, aufgrund seiner „natürlichen“ Konkurrenz zur dominanten deutschen Position. Der „Ostblock“ wird ökonomisch das neoliberale Modell vertreten und politisch eine konservative, autoritäre nationalistische Staatsform. Der Süd- und Westblock werden dagegen ökonomisch eine keynesianistische Markregulation propagieren, mit staatlicher industrieller Wachstumspolitik um Arbeitslosigkeit zu senken. Für beide Blöcke gilt aber, dass eine europäische Integration im Sinne des alten neoliberalen Blocks, d.h. mit weitgehendem Abbau staatlicher Interventionen (ob auf europäischer oder nationalstaatlicher Ebene) ein ausgelaufenes Modell ist. Und beide Blöcke haben keine politisch überzeugende Antwort auf das primäre Moment der Krise: die Massivität der Migration. Diese betrifft eben nicht nur die Außengrenzen der EU, sondern auch ihre innere Struktur und kann ohne die nationalstaatlichen Grenzen überschreitende soziale und ökonomische Intervention nicht gelöst werden.

 

These 7

Der Prozess einer neuen hegemonialen Blockbildung wird sich über eine längere Zeitperiode hinstrecken. Denn weder ergänzt sich der Nationalismus des „Ostblocks“ „organisch“ zu der supranationalen Struktur der EU noch der Keynesianismus des „Süd-Westblocks“ ohne europaweiten Finanzausgleich zu offenen Grenzen für alle Formen von Kapital(ab)flüssen und freier Arbeitsmigration in sich erholende nationale Arbeitsmärkte. Damit eröffnet die wachsende Auflösung des neoliberalen „Kommunismus des Kapitals“ erstmals seit Jahrzehnten die Chance zu einer Formulierung eines linken Projekts für die europäische Integration. Der Internationalismus erreichte damit wieder den politischen Ort, von dem aus er entwickelt wurde und wo er politisch zu Hause ist, weil sich seine neoliberale Usurpation auflöst. Gleichheit der Menschen könnte wieder als gesellschaftliches Ziel und nicht als Vorbedingung zu gesellschaftlicher Ungleichheit (im Sinne von Chancengleichheit zur Legitimation von resultierender Ungleichheit) bestimmt werden. Und „Absterben des Staates“ als sachliche Bestimmung einer optimalen Grundversorgung aller Menschen und nicht als formales Demokratiekonzept für die Abstimmung über eine immer stärkere Ungleichheit in der Verteilung eines Mangels.

 

These 8

Ein fiktives linkes Sofort- und mittelfristiges Programm für Europa müsste, um als ein Signifikant von wahren Gleichheit bei echter Freiheit vor dem Hintergrund einer sozialen Grundversorgung erfolgreich zu sein, mindestens folgende Elemente umfassen:

  • Bruch mit den alten Führungsfiguren und -strukturen der EU, d.h. Abtritt von Mario Draghi mit seiner dubiosen Vergangenheit bei Goldman Sachs, von Jean-Claude Juncker mit seiner Zeit als Ministerpräsident in Luxemburg, in der die Steuerschlupflöcher dort gesetzlich beschlossen worden, die er heute angeblich bekämpft, von Martin Schulz, der in der Durchsetzung der Schuldknechtschaft des griechischen Staates eine so unrühmliche Rolle gespielt hat.
  • Aufrechterhaltung der Freiheit der Migration mit Wegfall aller Binnengrenzen der EU.
  • Aufbau eines kostenlosen Ladesystems für Elektro-Autos und andere Elektrofahrzeuge auf der Basis erneuerbarer Energien (siehe unten) und zur Ermöglichung einer freien Beweglichkeit für alle in ganz Europa.
  • Einführung eines europaweiten einheitlichen Mindesteinkommens für Arbeitslose und Rentner in Höhe des Hartz IV Satzes, aber zu den Bezugsbedingungen von ALG I.
  • Neuausrichtung der Energie- und Umweltpolitik in Richtung des alten erneuerbaren Energiegesetzes mit Dezentralisierung der Energieproduktion und hochtechnologischem Netzausbau incl. der Internetverbindungen.
  • Neugestaltung der europäischen Landwirtschaft in Richtung eines schnell wachsenden Anteils ökologischen Anbaus und eines schnell sinkenden Anteils industrieller Fleischproduktion.
  • Durchsetzung gleicher Lebensverhältnisse für alle als Aufgabe des öffentlichen Sektors innerhalb von 15 Jahren. D.h. massive Investition in ein europaweit gleiches hochentwickeltes Gesundheitssystem, Bildungssystem mit (kosten-) freiem und gleichem Zugang zu Krankenhäusern, Polikliniken, Kindergärten, Schulen und Universitäten.
  • Rekonstruktion eines öffentlichen Sektors mit dem Ziel einer wachsenden Dominanz gegenüber dem Privatsektor.
  • Formulierung eines realistischen Projekts für die Ausweitung des europäischen Sozialstandards und europäischer Demokratiestrukturen auf nicht europäische Länder und Abbau aller internationalen Ausbeutungsketten über einen Zeitraum von 50 Jahren.

 

These 8

Mit anderem Worte liegt die Zukunft eines linken Projekts für Europa in der Formulierung gleicher, staatlicher garantierter Lebensbedingungen, nicht aber in einer formalen Bürokratie- und Demokratiedefizitkritik, nicht in einem ökologisch und politisch falschem Wachstumskeynesiasmus und ebenso wenig in einem „small is beautifull“ linken Kuschelnationalismus.