Rede von Ratsherr Dr. Jens Ilse (Die Linke) im Oldenburger Stadtrat am 16.12.2013 zur Begründung des Antrags für eine Solidaritätserklärung für Edward Snowden
Sehr geehrter Herr Vorsitzender, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Erlauben Sie mir am Anfang zunächst einen persönlichen Rückblick auf ein dunkles Kapitel der deutschen Geschichte. In meinen Händen halte ich Briefe, die ich seit ungefähr einem Vierteljahrhundert besitze. Sie sind von meiner Brieffreundin in der ehemaligen DDR, mit der ich Ende der 80er Jahre Kontakt hatte. Neben Teenager-Themen tauschten wir uns über das Aufwachsen in zwei getrennten deutschen Staaten aus.
Nicht alle Briefe, die wir uns gegenseitig sendeten, erreichten ihre Ziele. Manche Briefe lagen damals in notdürftig zugeklebten Umschlägen in meinem Briefkasten. Das Ministerium für Staatssicherheit der SED-Diktatur öffnete systematisch, millionenfach Briefe in Postämtern und Postverladestellen. Die Menschen in der DDR lebten in einem Klima der Furcht vor Überwachung und Denunziation. Telefonate konnten belauscht werden, ebenso wie Gespräche am Arbeitsplatz und an öffentlichen Orten.
Meine Brieffreundin wusste damals um die Gefahr, dass die Staatssicherheit ihre Briefe mitlesen könnte. Sie hat oft ihre Gedanken nicht deutlich ausgesprochen, sondern mit Andeutungen umschrieben. Die Überwachung führte bei ihr also zu einer Verhaltensveränderung. Zwischen ihren Zeilen tritt eine Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben außerhalb der engen Bahnen der SED-Diktatur hervor.
Jahrzehntelange staatliche Überwachung hat Generationen in der DDR geprägt und in ihrer Menschenwürde verletzt. Die Lehre aus der SED-Diktatur sollte für uns sein, dass totale Überwachung ein Gefühl der Angst und des Ausgeliefertseins bei den Menschen erzeugt. Wer weiß, dass er beobachtet wird, passt sein Verhalten an.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Überwachung und Bespitzelung unserer Daten, unserer Leben und unserer Gedanken, egal, ob von staatlicher oder privatwirtschaftlicher Seite, missachten unsere Rechte als Bürger. Auch wenn Staaten vorgeben, es im Namen der Verbrechens- und Terrorismusbekämpfung zu tun, diese Methoden sind kriminell und selbst eine Form des Terrors.
Aufgeschreckt durch die Enthüllungen von Edward Snowden sehen in diesen Tagen ehemalige DDR-Bürgerrechtler unsere Demokratie in Gefahr. Sie protestieren gegen die totale Überwachung durch die Geheimdienste. Und sie protestieren gegen das Versagen der Politik in Deutschland, die nicht in der Lage ist, die bürgerlichen Grundrechte wie Gedankenfreiheit gegenüber den us-amerikanischen und britischen Geheimdiensten zu schützen. Ein Protestaufruf von 560 Schriftstellern aus 83 Ländern kommt zu der gleichen Schlussfolgerung: Sie haben erkannt, dass Menschen unter Beobachtung niemals frei sein können. Und dass eine Gesellschaft unter permanenter Überwachung, in der jeder Bürger unter Generalverdacht steht, keine freie Demokratie mehr sein kann.
Vorerst läuft unsere Demokratie nicht Gefahr, sich in eine Diktatur zu verwandeln. Aber sie bewegt sich eindeutig in die falsche Richtung. Sie droht ihren Kern aus Menschen- und Bürgerrechten zu verlieren. Zum Wesen der Demokratie gehört auch, dass die Bürgerinnen und Bürger ihre Vertreter und die Mächtigen kontrollieren und überwachen. Und nicht umgekehrt. Besonders wir hier in Deutschland sollten aus der Geschichte gelernt haben: Die Demokratie darf niemals wieder auf den Kopf gestellt werden.
Edward Snowden hat uns mit seinen Enthüllungen die Augen geöffnet: Dank ihm wissen wir, dass die Geheimdienste und die Privatwirtschaft sich verflechten und unsere persönlichen Daten unkontrolliert austauschen. Sie überwachen uns, durchleuchten unsere Leben und setzen sich über den Rechtsstaat hinweg. Sie belauschen unser Mobilfunknetze, sie lesen und kopieren unsere E-Mails, sie beobachten unsere Aktivitäten in den sozialen Netzwerken, sie kennen unser Konsumverhalten und haben Zugang zu unseren politischen Einstellungen. Weltkonzerne wie Facebook oder Google sind zu Datenpipelinen für die Geheimdienste geworden.
Das Internet galt einmal als ein Mittel der Emanzipation, in dem wir frei kommunizieren, unsere Meinungen und unser Wissen austauschen können. Das Internet sollte ein Medium werden, mit dem die Weltgesellschaft mit sich selber spricht. Jetzt droht es zu einem Mittel der Durchleuchtung unseres gesamten Kommunikationsverkehrs und Wegbereiter für eine globale, totalitäre Überwachungsgesellschaft zu werden. Es liegt an uns allen, diesen Prozess aufzuhalten, bevor es dafür zu spät sein wird.
Für die skandalösen Enthüllungen sind wir Edward Snowden zu großem Dank verpflichtet. Er kämpft für eine bessere Welt ohne totale Überwachung. Eine digitale und virtuelle Welt, in der die Menschen weiterhin das Recht haben, in ihren Gesprächen und Gedanken frei und behelligt zu bleiben. Und deshalb sollten wir als Demokraten Snowden unterstützen. Seine Enthüllungen stoßen darüber hinaus einen Bewusstseinswandel in der Bevölkerung an.
Wir Piraten & Linke sind überzeugt, es werden bald mehr Menschen in Berlin, Brüssel und weltweit für ein freies Internet und für informationelle Selbstbestimmung protestieren. Es geht dabei um nichts weniger, als die Freiheitsrechte, die wir in der analogen Welt in Jahrhunderten erkämpft haben, in der digitalen Welt zu bewahren. Ich bin kein großer Freund von Heldenverehrung, aber Edward Snowden ist wirklich ein Held der digitalen Welt, ein Held für die Ideale der Demokratie.
Mit Sorge blicken wir Piraten & Linke auf die neue Bundesregierung. Wenn ich mir die bisherigen Äußerungen der neuen Datenschutzbeauftragten Andrea Astrid Voßhoff (CDU) so anschaue, dann läuft mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. Sie hat da wohl etwas missverstanden: Ihre Aufgabe soll es nicht sein, die Bürgerinnen und Bürger noch transparenter zu machen, sondern sie vor staatlichen und privatwirtschaftlichen Überwachungen besser zu schützen. Dazu gehört beispielsweise die Aufklärung über Verschlüsselungsmethoden.
Im Namen der Terror- und Verbrechensbekämpfung plant die Bundesregierung, die Überwachung und das Cyber-Abwehrzentrum weiter auszubauen und die Vorratsdatenspeicherung einzuführen. Sie begründet diese Schritte mit der unvermeidlichen Anpassung an die EU-Richtlinien. Dabei ignoriert sie, dass Staaten wie Irland und Österreich gegen die Vorratsdatenspeicherung klagen. Der Generalanwalt am europäischen Gerichtshof hat vor wenigen Tagen erst klargestellt, dass die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung unvereinbar mit den in der EU garantierten Grundrechten ist: Weil die unbegründete Speicherung personenbezogener Daten gegen die Menschenrechte auf Datenschutz und Privatsphäre verstößt. Wir Piraten & Linke lehnen daher die Vorratsdatenspeicherung in jeder Form ab.
Die massenhafte Überwachung behandelt jeden einzelnen Bürger als Verdächtigen. Auf diese Weise wird die historische Errungenschaft unseres Rechtsstaates, die Unschuldsvermutung, außer Kraft gesetzt. Mit dieser Politik muss endlich Schluss sein. Die Verteidigung der Bürgerrechte und nicht ihr Abbau muss wieder an erster Stelle stehen. Die Bürgerinnen und Bürger müssen das Recht haben, selber zu entscheiden, welche persönlichen Daten über sie gesammelt und verarbeitet werden. Das macht informationelle Selbstbestimmung aus.
Ich danke für eure Aufmerksamkeit und bitte um die Unterstützung unseres Antrags.
(Veröffentlicht mit ausdrücklicher Erlaubnis des Autors/ Redners)