Wir möchten die LeserInnen der nachfolgenden Ausführungen ausdrücklich darauf hinweisen, dass es sich bei dem Text um die Veröffentlichung des Vortragsmanuskripts handelt, das die Grundlage des Redebeitrags von Prof. Helge Peters bei unserer Veranstaltung "Anerkennung als Freiheit? Der Anerkennungsbegriff von Axel Honneth" am 30.03.2014 bildete. 

 

Axel Honneth „Das Recht der Freiheit“
 

1. In der Soziologie hat es einen Jahrzehnte währenden Streit gegeben, der heute still gestellt zu sein scheint, im Grunde aber nicht entschieden und wohl auch unentscheidbar ist. Es geht um die Frage, ob Untersuchungen gesellschaftlicher Zustände und Prozesse werturteilsfrei sein sollen oder nicht Der klassische Vertreter der Position der Werturteilsfreiheit ist Max Weber. Er sagt, dass Werte zwar bei der Auswahl der Untersuchungsgegenstände eine Rolle spielen . Es bestehe, wie er sagt, eine „Wertbeziehung“ des Forschers zu seinem Gegenstand. Oder doch: Sie könne bestehen. Beginne jedoch der Forschungsvorgang, hätten Werte ihr Recht verloren. Forschung habe werturteilsfrei zu erfolgen. Dieser Forderung widersprechen Vertreter vor allem linker soziologischer Positionen. Sie halten den Vertretern der Werturteilsfreiheit vor, dass sie mit ihrer Forderung bereits bestimmte, meist „apologetische“ Positionen übernehmen. Vor allem aber seien die Vertreter der Werturteilsfreiheit blind gegenüber den in den gesellschaftlichen Zuständen und Prozessen bereits verwirklichten Werten. Es komme darauf an, zu prüfen, ob diese Werte der Gerechtigkeit dienten. Falls dies so sei, müssten die Gesellschaftswissenschaften dazu beitragen, dieses Merkmal zu steigern.

Solche Positionen gehen zumeist auf gesellschaftstheoretische Vorstellungen Georg Wilhelm Friedrich Hegels zurück, der annahm, dass die gesellschaftliche  Entwicklung Werte verkörpere – und zwar solche, die Gerechtigkeit repräsentierten.

Dies ist – jedenfalls im Grundsatz – auch die Position Honneths, um dessen Buch  „Das Recht der Freiheit“ es hier geht. Honneth versteht die gesellschaftliche Verfasstheit als realisierten Wertausdruck oder doch als Ermöglichung von Werten der Gerechtigkeit.

Er unterscheidet sich natürlich von Hegel dadurch, dass er nicht schon in der vorgefundenen sozialen Wirklichkeit Gerechtigkeit erkennt. Er bemängelt diese Wirklichkeit an vielen Stellen. Aber er betrachtet die gesellschaftliche Entwicklung doch als eine Agentur, die grundsätzlich Gerechtigkeit ermöglichen kann. Honneths Buch besteht großenteils darin, gesellschaftliche Institutionen daraufhin zu untersuchen, inwieweit sie die gewissermaßen in ihnen ruhenden Möglichkeiten verwirklichen könnten und wie man zur Verwirklichung dieser Möglichkeiten beitragen könne.

2. Was heißt gerecht?

Honneth sieht als Bezugspunkt aller Gerechtigkeitsforderungen die individuelle Selbstbe- stimmung, die Autonomie. „Als gerecht muss gelten,“ so schreibt er, „was den Schutz, die Förderung oder die Verwirklichung der Autonomie aller Gesellschaftsmitglieder gewährleistet“ (40). Selbstbestimmung oder Autonomie: das ist gleichbedeutend mit Freiheit des Menschen. Das sieht auch Honneth so. Man könnte deswegen erwarten, dass Honneth die gesellschaftlichen Orte oder Institutionen zu ermitteln versucht, die Freiheit ermöglichen. Das tut er auch. Aber zuvor klärt er erst einmal den Freiheitsbegriff. Der liegt nicht offen zutage.

2.1 Bei Freiheit denken wir alle zunächst einmal an einen gesellschaftlichen Bereich, der uns erlaubt, das zu tun, was wir wollen. Diese Vorstellung steht auch am Anfang der politischen Entwicklung, in der sich Forderungen nach Freiheit Bahn brechen. Honneth datiert sie auf die Zeit der religiösen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts. Es geht  gegen religiöse Bevormundung, darum, „ den Subjekten eine geschützten Spielraum für egozentrische, von Verantwortungsdruck entlastete Handlungen zu sichern“, wie Honneth schreibt (47). Vorstellungen dieser Art schreiben wir John Locke und John Stuart Mill zu. Begrenzt wird diese Freiheit den verbreiteten Vorstellungen zufolge durch das Recht des anderen.

Honneth nennt diese Freiheit die „negative“ Freiheit. „Negativ“, weil die Ziele dieser Freiheit nicht weiter darauf hin befragt werden müssen, ob sie ihrerseits Bedingungen der Freiheit genügen...“(Der) pure, ungestörte Akt des Entscheidens reicht aus, um die daraus resultierende Handlung als ´frei´ zu qualifizieren“ (49), schreibt er.

2.2 Honneth erscheint diese Freiheit als etwas dürftig. Dies, weil bei deren Würdigung nicht unterschieden werde zwischen autonomen und heteronomen Handlungen (vgl. 59). Als heteronom gelten Honneth Handlungen, die bestimmten Zwängen folgen, individuellen Handlungsdrängen und Begierden. Solche Zwänge beeinträchtigten den freien menschlichen Willen, setzten ihn gelegentlich außer Kraft. Erst wenn wir uns sagen könnten, dass unsere Handlungen unabhängig sind „von den bestimmten Ursachen der Sinnenwelt“, wie Immanuel Kant es ausdrückt (65), handele es sich um Fälle der Freiheit.

Honneth nennt die so verstandene Freiheit die „reflexive“ Freiheit – reflexiv, weil das Urteil, ob Handlungen Fälle von Freiheit sind, erst auf Grund der Einschätzung gefällt wird, dass der Wille des Handelnden sich frei habe entfalten können.

2.3 Diese reflexive Freiheit unterscheidet sich von der negativen Freiheit durch ihre Rationalität. Allerdings bleibt sie eine individuelle Freiheit ohne sozialen Bezug. Die Außenwelt steht dieser Freiheit gegenüber oder doch: sie kann ihr gegenüber stehen als heteronome, fremd gesteuerte Objektivität. Dies skizziert die Kritik an dieser Freiheitsvorstellung, die Hegel übt und der sich Honneth anschließt. Eine Freiheitsvorstellung, die diese Kritik aufnimmt, bezeichnet Handlungen erst dann als frei, wenn sie im Adressaten eine Befriedigung erzielen, die dieser dem Akteur zurückgibt und damit dessen Selbstgefühl steigert. Auf diese Weise entstehe ein „Bei-sich selbst-Sein im anderen“ (85).

Honneth nennt diese Freiheit die „soziale“ Freiheit. Sozial, weil eine Bedingung für ihre Verwirklichung die Befriedigung und damit die Anerkennung des Adressaten ist, die ihrerseits als Anerkennung auf den Akteur zurückwirkt. Hier taucht also der Begriff auf, der heute hier Thema ist. Soziale Freiheit beschreibt Merkmale von Interaktionen, deren Ergebnis in der wechselseitigen Anerkennung der Interaktionspartner besteht.

Hegel nennt die Freundschaft und die Liebe als Beispiele sozialer Freiheit. Hier mache man die reziproke Erfahrung, „sich in den Wünschen und Zielen des Gegenüber insofern bestätigt zu sehen, als deren Existenz eine Bedingung der Verwirklichung der eigenen Wünsche und Ziele darstellt“ (85 f.).

Bei diesem Stand der Darstellung muss man den Eindruck haben, die Anerkennung verschaffende soziale Freiheit sei – wenn es gut geht – das Ergebnis frei schwebender Interaktionen. Dieser Eindruck ist zu korrigieren. Für Hegel versöhnt die soziale Freiheit subjektive Freiheit mit der gesellschaftlichen Objektivität. Diese Objektivität soll gewissermaßen das wollen, was das Subjekt will (vgl. 91) Unter gesellschaftlicher Objektivität verstehen Hegel und auch Honneth vor allem Institutionen, also soziale Einrichtungen, die uns sagen, was wir in bestimmten Lagen zu tun haben. Soziale Freiheit der Individuen komme in solchen Institutionen dann zur Entfaltung, wenn sie von sich aus wollen, was das Subjekt beabsichtigt. Als Beispiele solcher Institutionen nennt Hegel die Familie, den Markt und den Staat.

Ich komme darauf zurück.

3. Institutionen dieser Art entwickeln sich Honneth zufolge nicht ohne bestimmte gesellschaftliche Voraussetzungen oder, wie Honneth sagt, ohne Handlungssphären, „in denen der Wert der individuellen Freiheit auf je spezifische, funktionstypische Weise institutionelle Gestalt angenommen hat“ (124). Zu diesen Handlungssphären zählt Honneth vor allem das Recht und die Moral, genauer: das Recht der Freiheit und die Moral der Freiheit.

Merkmale der rechtlichen Freiheit sind Hegel und Honneth zufolge das Recht auf Schutz vor Eingriffen von Seiten des Staats und ein privater Schutzraum, der es ermöglicht, sich von allen Verpflichtungen zurückzuziehen (vgl. 147). Die Ausbreitung dieses Rechts bemängelt Honneth. Er spricht hier sogar von „Pathologien der rechtlichen Freiheit“. Man meine alles rechtlich regeln zu sollen. Auf diese Weise würde das Schlichtungspotential kommunikativen Handelns in Vergessenheit geraten (vgl. 160).

Die Moral der Freiheit besteht Honneth zufolge, der sich hier auf Kant bezieht, in der Freiheit, soziale Zumutungen abzulehnen (vgl. 180). Oder genauer: Das Subjekt soll dieser Moral zufolge über einen informell zugestandenen Spielraum verfügen , nur solchen moralischen Normen zu folgen, denen es zustimmen kann, weil sie die Zustimmung aller Betroffenen finden würden (vgl. 191).

Auch hier glaubt Honneth, pathologische Formen feststellen zu können. Missverstanden habe diese moralische Freiheit z. B. die RAF. Sie – insbesondere Ulrike Meinhof – habe alle existierenden Handlungsregeln angezweifelt. Es zeigt sich – wenn ich ausnahmsweise einen Kommentar hinzufügen darf – hier die biedere Seite der Philosophie Honneths. Plausibel wäre ja eine Pathologisierung, wenn sich die Mitglieder der RAF vor ihren Aktionen der „Gesellschaft“ oder dem „Staat“ verpflichtet hätten. Das haben sie zunächst sogar getan. Ulrike Meinhof z. B. hat vor ihren spektakulären Aktivitäten noch mit dem Grundgesetz argumentiert und für dieses Gesetz gekämpft. Dann aber glaubte sie, den Zumutungen der Moral, die von diesem Recht ausgingen, ganz im Sinne Honneths nicht mehr entsprechen zu sollen. Deutlich wird also der Biedermann Honneth. „Zuviel Revolte ist auch nicht gut.“

Ich habe mich gefragt, weshalb Honneth dieses Kapitel eingeschoben hat. Er hätte ja – nachdem er die Begriffe soziale Freiheit und damit wechselseitige Anerkennung entwickelt hatte – loslegen und sich fragen können, wo diese Freiheit realisiert ist und wo nicht. Stattdessen dieses Kapitel über das Recht und die Moral der Freiheit. Meine Antwort ist: Honneth meint: Erst wenn diese Freiheiten existieren, wird soziale Freiheit in einem ganz spezifischen Sinn erst möglich: Sie erlaubten, sich Verpflichtungen, die keine soziale Freiheit herstellen, zu entziehen. Ohne diese Freiheiten wäre es empirisch schwer erkennbar, welche Interaktionen solche sozialer Freiheit sind und welche nicht. Es wäre nicht erkennbar, ob sich Subjekte „in wechselseitiger Anerkennung derart begegnen, dass ihre Handlungsvollzüge jeweils als Erfüllungsbedingungen der Handlungsziele des Gegenübers begreifen können“ (222)

4. Auf Seite 221seines Buchs kommt Honneth dann zu seinem eigentlichen Thema, zur „Wirklichkeit der Freiheit“ ,  d.h. für ihn zur sozialen Freiheit.

Dieses Thema geht er folgendermaßen an: Er sucht die moderne Gesellschaft nach Institutionen ab, die seiner Einschätzung nach soziale Freiheit , die wechselseitige Anerkennung also, verwirklichen oder die nach seiner Einschätzung Chancen bergen, wechselseitige Anerkennung zu verwirklichen. Honneth kommt auf drei Kategorien. Er nennt sie: 1.  Das „Wir“  persönlicher Beziehungen 2. Das „Wir“ des marktwirtschaftlichen Handelns und 3. Das „Wir“ der demokratischen Willensbildung. Diesen drei Kategorien rechnet Honneth jeweils zwei oder drei konkrete Institutionen zu.

4.1 Dem „Wir“ persönlicher Beziehungen rechnet Honneth zu a. die Freundschaft, b. Intimbeziehungen und c. die Familie.

a. Die Freundschaft sieht Honneth in Europa als  ein relativ neues Phänomen an , das sich mit der Entwicklung kapitalistischer Märkte verbreitet. Vorher – also in feudalen oder ständischen Gesellschaften - habe sich Freundschaft wegen bestehender gesellschaftlicher Schranken nur unvollkommen entfalten können. Zudem sei mit der Entwicklung der Märkte das Bedürfnis „nach einer Gegenwelt des privaten Rückzugs entstanden“ (241)- nach Beziehungen, die auf Sympathie und Gefühl gegründet seien, in denen Subjekte allein auf Grund von wechselseitigen Zuneigungen und Anerkennungen miteinander verbunden sind. Honneth sieht in Freundschaften soziale Beziehungen mit Zukunftschancen. Schichtungs- und ethnische Grenzen verlören an Bedeutung ebenso wie Bindungen an einen gemeinsamen Ort.

b. Intimbeziehungen gewinnen Honneth zufolge natürlich – ebenso wie Freundschaften – mit dem Niedergang ständischer Strukturen an Bedeutung. Die Rede von der „romantic love“ symbolisiert das. Es gäbe kaum ein Werk der neueren Literatur, „in dem nicht die Erfahrung erwiderter Liebe als eine subjektiv erlebte Persönlichkeitserweiterung geschildert“ (270) werde – als wechselseitige Anerkennung also in trockenerer Formulierung. Es gäbe allerdings in modernen Gesellschaften Tendenzen des Niedergangs dieser Institution: Festzustellen sei eine Entgrenzung von Arbeit und Freizeit. Dies könne die Intimbeziehungen auszehren, aber auch im Sinne marktwirtschaftlich organisierter systemischer Prozesse Intimbeziehungen kolonialisieren (vgl. 276).

c. Auch für die Familie gilt Honneth zufolge, dass ihre Qualität als Institution sozialer Freiheit erst mit dem Ende ständischer Strukturen zur Geltung kommt. Gegenwärtig könne man großenteils den Abbau von hierarchischen Statusdifferenzen in Familien feststellen. Die Familien demokratisierten sich. Dies erlaube es, dass im Miteinander von Jung und Alt die Mitglieder der Familie „spielerisch mit ihren natürlichen Grenzen umzugehen lernen“ (308). Auch führe die stets steigende Lebenserwartung vielfach dazu, dass sich Rollen verkehrten. Kinder betreuten mehr und mehr ihre Eltern . Dies steigere die wechselseitige Anerkennung (vgl. 309). Die Politik tue deswegen gut daran, alles zu tun, die Familie sozial-ökonomisch zu unterstützen. (vgl. 316).

4.2 Ich komme damit zum „Wir“ des marktwirtschaftlichen Handelns . Diesem Wir rechnet Honneth die Konsumsphäre und den Arbeitsmarkt zu . Bevor sich Honneth mit diesen Sphären befasst, erörtert er das Verhältnis von Markt und Moral. Eigentlich könnte man ja im Sinne seines Konzepts sagen, dass ein funktionierender Markt eine Institution der wechselseitigen Anerkennung ist. Mein Autokauf befriedigt den Autoverkäufer. Er anerkennt mich als Zahlenden, ich anerkenne ihn als Liefernden. Das aber ist Honneth nicht moralisch genug. Der Markt kann Honneth zufolge nur eine Institution der sozialen Freiheit sein, wenn er eingebettet ist in eine Moral vormarktlich wechselseitiger Rücksichtnahme. Ein Markt bedarf - um als Institution wechselseitige Anerkennung gelten zu können – der „moralischen Zustimmung durch alle an ihm mitwirkende Teilnehmer“ (333). Diese „moralische Zustimmung“ wird insbesondere von Teilnehmern des Arbeitsmarkts erwartet. Honneth zitiert befürwortend Talcott Parsons, der die Auffassung vertrete, dass der Arbeitnehmer nicht nur Anspruch auf eine symbolische Anerkennung im Unternehmen besitzt, sondern dort auch mit einer achtbaren Arbeitstätigkeit rechnen kann. Und das Unternehmen dürfe Loyalität und Verantwortung von den Beschäftigten erwarten (341).

a. Die Konsumsphäre schildert Honneth im Anschluss an Hegel zunächst ganz im Sinne meines Autokaufbeispiels. Der Gütermarkt stelle ein Medium wechselseitiger Anerkennung dar, das es ermögliche, durch komplementäre Tätigkeiten gemeinsam individuelle Freiheit zu verwirklichen (vgl. 363). Dabei habe Hegel die beiden Fehlentwicklungen des Gütermarkts schon erkannt: die der unternehmerischen Bedürfnismanipulation und die der Distinktion schaffenden Konsumtion, des geltungssüchtigen Verbrauchs. Dieser Gütermarkt sei aber zu Beginn seiner Entwicklung normativ eingehegt gewesen. Nicht alles sei dem Spiel von Angebot und Nachfrage überlassen worden: Sexualität und Alkohol z. B. Auch sei die Gestaltung der Preise bei als elementar angesehenen Gütern , der Brotpreis z.B., nicht frei gewesen. Honneth weist auch auf Versuche hin, Unternehmer daran zu erinnern, dass sie einem durch den Markt gestifteten Anerkennungsverhältnis verpflichtet sind: auf Brotaufstände und Güterboykotte (vgl. 367). Derartige Versuche fänden aber in Westeuropa kaum noch statt. Die Atomisierung der Verbraucher und deren soziale Heterogenität verhinderten die Bildung einer Macht, die Anbieter zur Anerkennung der Verbraucher veranlassen könnten. Insbesondere die Zunahme der sozialen Ungleichheit erschwere es, die Marktmacht der Konsumenten zur Geltung zu bringen.

b. Diese Ungleichheit ist natürlich eine Folge des Wirkens neuer Kapitalakkumulationsregimes und neuer Arbeitsmarktentwicklungen, auf die Honneth sodann zu sprechen kommt. Diese Entwicklung bemängelt Honneth. Gemessen an den Kriterien, die sich aus der Erwartung ergeben, der Arbeitmarkt trage zur sozialen Freiheit, zu wechselseitiger Anerkennung bei, entwickle sich der Arbeitsmarkt katastrophal. Mit der Deregulierung des Markts hätten sich die Regierungen von ihren Kontrolltätigkeiten zurückgezogen. Es dominiere die „desozialisierte Sicht“ des ökonomischen Markts, der allenfalls negative Freiheit ermögliche. Ausgehöhlt werde die normative Leitidee gesellschaftlicher Mitverantwortung. Die Ursache für diese Entwicklung sieht Honneth in der Globalisierung des Wettbewerbs als Ergebnis auch des Wegfalls der Systemkonkurrenz. Entsprechend sieht Honneth Möglichkeiten, der skizzierten Entwicklung entgegenzuwirken, allenfalls in der Internationalisierung der Gegenmaßnahmen. Er setzt auf den Druck von transnationalen Gewerkschaften und anderen Nicht-Regierungsorganisationen. Allenfalls ihre Aktivitäten böten Chancen, den Arbeitsmarkt wieder zu einer Agentur sozialer Freiheit zu machen.

4.3 Ich komme zum „Wir“ der demokratischen Willensbildung. Diesem Wir rechnet Honneth die demokratische Öffentlichkeit und den demokratischen Rechtsstaat zu. Er schließt dieses Kapitel mit einem Ausblick.

a. Die demokratische Öffentlichkeit wird fundiert natürlich durch das Wahlrecht. Honneth weist darauf hin, das sich dieses Recht von den weiter oben erwähnten Freiheitsrechten drastisch unterscheidet. Diese begründen Schutzzonen, jene Möglichkeiten politischer Gestaltung – einer Gestaltung, die der Erwartung entspricht, dass dem Wahlakt ein politisches Räsonnement vorausgehe. Ausführlich referiert Honneth die Demokratie-Ideen Emile Durkheims und John Dewey, die in der Demokratie eine „Herrschaftsform der Reflexion“ sehen, die je besser funktioniere, desto mehr Gesellschaftsmitglieder in die Willensbildung einbezogen würden (vgl. 504). Sie mache sich die Intelligenz aller zunutze (vgl. ebd.).

Damit sind natürlich Erwartungen formuliert, die nur enttäuscht werden können. Das zeigt Honneth. Er formuliert aber auch Bedingungen, die seiner Einschätzung nach erfüllt sein müssten, damit diese Erwartungen verwirklicht werden könnten. Neben dem Wahlrecht wäre dies zum einen die Existenz eines schichtübergreifenden Kommunikationsraums. Der bestand lange in der Nation. Mehr und mehr aber würden Entscheidungen wirksam, an denen die Bürger nicht mehr mitwirken könnten. Die „Kongruenz zwischen Beteiligten und Betroffenen“ (541) nehme ab. Existieren müssten zum anderen Kommunikationsmedien, die das Publikum zur informierten Willensbildung befähigten. Die Sprache dieser Medien müsse „problemgenau, kontexterhellend und verständlich sein“ (542). Eine vierte Voraussetzung bestehe in der Bereitschaft der Bürger, unvergütete Dienstleistungen für die Verbreitung und Abwicklung publikumsbezogener Veranstaltungen zu übernehmen (vgl. 543) – Zettel verteilen, Kleben, Mailen.

Honneth spekuliert hier auch ein wenig über die Wirkungen des Internet und über die Frage, ob es der demokratischen Willensbildung dient. Er vermutet einerseits, dass durch das Internet die Transnationalisierung der Willensbildung gefördert werde, die angesichts der Globalisierung zu begrüßen sei. Andererseits sei zu vermuten, dass diese Willensbildung über marginalisierte Gruppen hinweg gehe.

Eine kleine kritische Bemerkung: Man hat bei der Lektüre dieses Abschnitts den Eindruck, dass Honneth sein Thema „soziale Freiheit“ ein wenig aus den Augen verliert. Es geht ihm hier eher wohl um die ideale Demokratie. Inwieweit zu deren Merkmalen die wechselseitige Anerkennung gehört, wird nicht klar.

b. Diese Einschätzung gilt auch für die Erörterung des zweiten „Wir“ der demokratischen Willensbildung, den demokratischen Rechtsstaat. Allenfalls könnte man hier – wie auch im „Wir“ der demokratischen Willensbildung – soziale Freiheit in dem Gebot erkennen, das Argument des anderen anzuerkennen. Etwas dünn, muss man sagen.

Honneth beschreibt zunächst die bis in die zwanziger Jahre in Deutschland zunehmende Demokratisierung, deren Merkmale er in der Ausdehnung des Wahlrechts und der Sozialpolitik sieht. Er erörtert dabei eine interessante Kontroverse zwischen Sigmund Freud und dem Staatsrechtler Hans Kelsen. Jener fürchtete die seelischen Folgen der Allgegenwart des demokratischen Staats, sein Monopol auf die Lösung verschiedenster Lebensprobleme. Dies mache diesen Staat zu einem institutionellen Gebilde, das sich dazu eigne, von Individuen als „Liebesobjekt“ verehrt zu werden. Damit gewinne der Staat die Macht, Massen irrational zu mobilisieren. Kelsen widerspricht dieser Einschätzung. Er hebt die rechtlichen Beziehungen hervor, die die Staatsbürger im Staat hätten, die sie rational handeln ließen. Der Staat werde – psychoanalytisch gesprochen – zum „Ich-Ideal“, nicht aber zum verinnerlichten Liebesobjekt.

Honneth beschreibt sodann die zunehmende Abhängigkeit der Regierungen von Kapitalverwertungsinteressen. Von der Adenauer-Zeit bis zur ersten Großen Koalition sei staatlicherseits noch versucht worden, diese Interessen durch wohlfahrtsstaatliche Leistungen auszubalancieren. Hier zeige sich aber schon ein Demokratie-Mangel. Solche Arrangements seien demokratischen Willensbildungsprozessen vorgelagert (vgl. 604). Dies begründe eine Krise des Rechtsstaats, der man nur durch eine Bündelung der öffentlichen Macht von Verbänden und sozialen Bewegungen entgegenwirken könne. So könne das Parlament genötigt werden, Maßnahmen zur sozialen Wiedereinbettung des Markts zu ergreifen (608). Dem Erfolg solcher Bemühungen stünden allerdings die Prozesse der europäischen Einigung entgegen, die es erschwerten, dass sich die Bürger solidarisierten. So gewönnen die Kapitalverwertungsinteressen weiterhin an Einfluss (vgl. 611 f.).

c. Im  letzten Unterkapitel des Abschnitts zum „Wir“ der demokratischen Willensbildung  versucht Honneth einen Ausblick auf die politische Kultur. Er behauptet, dass die drei Sphären des „Wir“ – also das der persönlichen Beziehungen, das des marktwirtschaftlichen Handelns und das der demokratischen Willensbildung – von einander abhängig sind. Die wahre soziale Freiheit sei erst möglich, wenn sie sich in allen drei Sphären entwickelt habe. Darüber hinaus: Die soziale Freiheit in einer Sphäre sei abhängig von dem Umstand, dass sie  auch in den anderen Sphären verwirklicht sei (vgl. 616). Dabei komme allerdings der Sphäre der öffentlichen Willensbildung  eine übergeordnete Stellung zu. Sie verfüge über die legitime Gewalt, kraft derer die soziale Freiheit auch in den anderen Sphären verwirklicht werden könne (vgl. 616). Darüber hinaus sei die öffentliche Willensbildung ihrem Prinzip nach als der Ort der reflexiven Selbstthematisierung angelegt. Deswegen könne hier alles zum Thema gemacht werden, was in den anderen Sphären durch herrschaftsbedingte Blockierungen verhindert werden könne.

Honneth ist, wie schon erörtert, im Blick auf die Entwicklung der öffentlichen Willensbildung skeptisch – insbesondere auch wegen der schleppenden Demokratisierung im europäischen Rahmen. Eine vage Hoffnung hat er dennoch. Sie gründet in dem schon Jahrhunderte währenden, offenkundigen kulturellen Zusammenwachsen Westeuropas. Die Französiche Revolution oder der Sieg Francos z. B. hätten Europa bewegt und zu vereinheitlichenden Räsonnements geführt. Dergleichen setze sich im kollektiven Gedächtnis fest. Es bilde sich eine Geschichtsvorstellung der geteilten Aufmerksamkeit und erweiterter Solidarität. Oder doch: Es könnte so sein.

5. Ich will die Arbeit Honneths hier nicht ausführlich würdigen und schon gar nicht geistesgeschichtlich einordnen. Das mach Gerhard Kraiker. Im Übrigen bietet die Schrift ja jede Menge Diskussionsstoff. Ich will zum Schluss nur auf einen Aspekt hinweisen, der erklärt, weshalb ich – und ich glaube: alle Linken – größte Probleme mit Honneths Buch haben. Begründet ist das in der hegelschen Annahme der grundlegenden Erhaltenswürdigkeit von gesellschaftlichen Institutionen. Diese Institutionen können sich falsch entwickelt haben, sie können soziale Freiheit sogar verhindern. Aber in ihnen steckt immer auch ein aufhebenswerter Kern. Und diese Annahme treibt Honneths Analyse. Nicht z.B. der Markt ist von übel, nein, er hat sich nur falsch entwickelt. Deswegen müssen Fehlentwicklungen korrigiert – nicht aber der Markt abgeschafft werden. Die Suche nach dem Fortschritt in dem Gegebenen , sie geht Linken doch sehr gegen den Strich.