Auszug aus dem 1. Kapitel: Begriff der Aufklärung (Suhrkamp Auflage: S. 15ff)
Der Mythos geht in die Aufklärung über und die Natur in bloße Objektivität. Die Menschen bezahlen
die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie die Macht ausüben. Die
Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie
manipulieren kann. Der Mann der Wissenschaft kennt die Dinge, insofern er sie machen kann.
Dadurch wird ihr An sich Für ihn. In der Verwandlung enthüllt sich das Wesen der Dinge immer als je
dasselbe, als Substrat von Herrschaft. Diese Identität konstituiert die Einheit der Natur. Sie so wenig
wie die Einheit des Subjekts war von der magischen Beschwörung vorausgesetzt. Die Riten des
Schamanen wandten sich an den Wind, den Regen, die Schlange draußen oder den Dämon im
Kranken, nicht an Stoffe oder Exemplare. Es war nicht der eine und identische Geist, der Magie
betrieb; er wechselte gleich den Kultmasken, die den vielen Geistern ähnlich sein sollten. Magie ist
blutige Unwahrheit, aber in ihr wird Herrschaft noch nicht dadurch verleugnet, daß sie sich, in die reine
Wahrheit transformiert, der ihr verfallenen Welt zugrundelegt. Der Zauberer macht sich Dämonen
ähnlich; um sie zu erschrecken oder zu besänftigen, gebärdet er sich schreckhaft oder sanft.
Wenngleich sein Amt die Wiederholung ist, hat er sich noch nicht wie der Zivilisierte, dem dann die
bescheidenen Jagdgründe zum einheitlichen Kosmos, zum Inbegriff aller Beutemöglichkeit
zusammenschrumpfen, fürs Ebenbild der unsichtbaren Macht erklärt. Als solches Ebenbild erst erlangt
der Mensch die Identität des Selbst, das sich in der Identifizierung mit anderem nicht verlieren kann,
sondern sich als undurchdringliche Maske ein für allemal in Besitz nimmt. Es ist die Identität des
Geistes und ihr Korrelat, die Einheit der Natur, der die Fülle der Qualitäten erliegt. Die disqualifizierte
Natur wird zum chaotischen Stoff bloßer Einteilung und das allgewaltige Selbst zum bloßen Haben,
zur abstrakten Identität. In der Magie gibt es spezifische Vertretbarkeit. Was dem Speer des Feindes,
seinem Haar, seinem Namen geschieht, werde zugleich der Person angetan, anstelle des Gottes wird
das Opfertier massakriert. Die Substitution beim Opfer bezeichnet einen Schritt zur diskursiven Logik
hin. Wenn auch die Hirschkuh, die für die Tochter, das Lamm, das für den Erstgeborenen
darzubringen war, noch eigene Qualitäten haben mußten, stellten sie doch bereits die Gattung vor.
Sie trugen die Beliebigkeit des Exemplars in sich. Aber die Heiligkeit des hic et nunc, die Einmaligkeit
des Erwählten, in die das Stellvertretende eingeht, unterscheidet es radikal, macht es im Austausch
unaustauschbar. Dem bereitet die Wissenschaft ein Ende. In ihr gibt es keine spezifische
Vertretbarkeit: wenn schon Opfertiere so doch keinen Gott. Vertretbarkeit schlägt um in universale
Fungibilität. Ein Atom wird nicht in Stellvertretung sondern als Spezimen der Materie zertrümmert, und
das Kaninchen geht nicht in Stellvertretung sondern verkannt als bloßes Exemplar durch die Passion
des Laboratoriums. Weil in der funktionalen Wissenschaft die Unterschiede so flüssig sind, daß alles
in der einen Materie untergeht, versteinert der wissenschaftliche Gegenstand und das starre Ritual
von ehedem erscheint als schmiegsam, da es dem Einen noch das Andere unterschob. Die Welt der
Magie enthielt noch Unterschiede, deren Spuren selbst in der Sprachform verschwunden sind[13]. Die
mannigfaltigen Affinitäten zwischen Seiendem werden von der einen Beziehung zwischen
sinngebendem Subjekt und sinnlosem Gegenstand, zwischen rationaler Bedeutung und zufälligem
Bedeutungsträger verdrängt. Auf der magischen Stufe galten Traum und Bild nicht als bloßes Zeichen
der Sache, sondern als mit dieser durch Ähnlichkeit oder durch den Namen verbunden. Die Beziehung
ist nicht die der Intention sondern der Verwandtschaft. Die Zauberei ist wie die Wissenschaft auf
Zwecke aus, aber sie verfolgt sie durch Mimesis, nicht in fortschreitender Distanz zum Objekt. Sie
gründet keineswegs in der »Allmacht der Gedanken«, die der Primitive sich zuschreiben soll wie der
Neurotiker; eine »Überschätzung der seelischen Vorgänge gegen die Realität«[14] kann es dort nicht
geben, wo Gedanken und Realität nicht radikal geschieden sind. Die »unerschütterliche Zuversicht auf
die Möglichkeit der Weltbeherrschung«[15], die Freud anachronistisch der Zauberei zuschreibt,
entspricht erst der realitätsgerechten Weltbeherrschung mittels der gewiegteren Wissenschaft. Zur
Ablösung der ortsgebundenen Praktiken des Medizinmanns durch die allumspannende industrielle
Technik bedurfte es erst der Verselbständigung der Gedanken gegenüber den Objekten, wie sie im
realitätsgerechten Ich vollzogen wird.
Als sprachlich entfaltete Totalität, deren Wahrheitsanspruch den älteren mythischen Glauben, die
Volksreligion, herabdrückt, ist der solare, patriarchale Mythos selbst Aufklärung, mit der die
philosophische auf einer Ebene sich messen kann. Ihm wird nun heimgezahlt. Die Mythologie selbst
hat den endlosen Prozeß der Aufklärung ins Spiel gesetzt, in dem mit unausweichlicher Notwendigkeit
immer wieder jede bestimmte theoretische Ansicht der vernichtenden Kritik verfällt, nur ein Glaube zu
sein, bis selbst noch die Begriffe des Geistes, der Wahrheit, ja der Aufklärung zum animistischen
Zauber geworden sind. Das Prinzip der schicksalhaften Notwendigkeit, an der die Helden des Mythos
zugrunde gehen, und die sich als logische Konsequenz aus dem Orakelspruch herausspinnt, herrscht
nicht bloß, zur Stringenz formaler Logik geläutert, in jedem rationalistischen System der
abendländischen Philosophie, sondern waltet selbst über der Folge der Systeme, die mit der
Götterhierarchie beginnt und in permanenter Götzendämmerung den Zorn gegen mangelnde
Rechtschaffenheit als den identischen Inhalt tradiert. Wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so
verstrickt Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie. Allen Stoff empfängt sie von den
Mythen, um sie zu zerstören, und als Richtende gerät sie in den mythischen Bann. Sie will dem
Prozeß von Schicksal und Vergeltung sich entziehen, indem sie an ihm selbst Vergeltung übt. In den
Mythen muß alles Geschehen Buße dafür tun, daß es geschah. Dabei bleibt es in der Aufklärung: die
Tatsache wird nichtig, kaum daß sie geschah. Die Lehre der Gleichheit von Aktion und Reaktion
behauptete die Macht der Wiederholung übers Dasein, lange nachdem die Menschen der Illusion sich
entäußert hatten, durch Wiederholung mit dem wiederholten Dasein sich zu identifizieren und so
seiner Macht sich zu entziehen. Je weiter aber die magische Illusion entschwindet, um so
unerbittlicher hält Wiederholung unter dem Titel Gesetzlichkeit den Menschen in jenem Kreislauf fest,
durch dessen Vergegenständlichung im Naturgesetz er sich als freies Subjekt gesichert wähnt. Das
Prinzip der Immanenz, der Erklärung jeden Geschehens als Wiederholung, das die Aufklärung wider
die mythische EinLildungskraft vertritt, ist das des Mythos selber. Die trockene Weisheit, die nichts
Neues unter der Sonne gelten läßt, weil die Steine des sinnlosen Spiels ausgespielt, die großen
Gedanken alle schon gedacht, die möglichen Entdeckungen vorweg konstruierbar, die Menschen auf
Selbsterhaltung durch Anpassung festgelegt seien - diese trockene Weisheit reproduziert bloß die
phantastische, die sie verwirft; die Sanktion des Schicksals, das durch Vergeltung unablässig wieder
herstellt, was je schon war. Was anders wäre, wird gleichgemacht. Das ist das Verdikt, das die
Grenzen möglicher Erfahrung kritisch aufrichtet. Bezahlt wird die Identität von allem mit allem damit,
daß nichts zugleich mit sich selber identisch sein darf. Aufklärung zersetzt das Unrecht der alten
Ungleichheit, das unvermittelte Herrentum, verewigt es aber zugleich in der universalen Vermittlung,
dem Beziehen jeglichen Seienden auf jegliches. Sie besorgt, was Kierkegaard seiner protestantischen
Ethik nachrühmt und was im Sagenkreis des Herakles als eines der Urbilder mythischer Gewalt steht:
sie schneidet das Inkommensurable weg. Nicht bloß werden im Gedanken die Qualitäten aufgelöst,
sondern die Menschen zur realen Konformität gezwungen. Die Wohltat, daß der Markt nicht nach
Geburt fragt, hat der Tauschende damit bezahlt, daß er seine von Geburt verliehenen Möglichkeiten
von der Produktion der Waren, die man auf dem Markte kaufen kann, modellieren läßt. Den Menschen
wurde ihr Selbst als ein je eigenes, von allen anderen verschiedenes geschenkt, damit es desto
sicherer zum gleichen werde. Weil es aber nie ganz aufging, hat auch über die liberalistische Periode
hin Aufklärung stets mit dem sozialen Zwang sympathisiert. Die Einheit des manipulierten Kollektivs
besteht in der Negation jedes Einzelnen, es ist Hohn auf die Art Gesellschaft, die es vermöchte, ihn zu
einem zu machen. Die Horde, deren Namen zweifelsohne in der Organisation der Hitlerjugend
vorkommt, ist kein Rückfall in die alte Barbarei, sondern der Triumph der repressiven Egalität, die
Entfaltung der Gleichheit des Rechts zum Unrecht durch die Gleichen. Der Talmi-Mythos der
Faschisten enthüllt sich als der echte der Vorzeit, insofern der echte die Vergeltung erschaute,
während der falsche sie blind an den Opfern vollstreckt. Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen,
indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein. So ist die Bahn der
europäischen Zivilisation verlaufen. Die Abstraktion, das Werkzeug der Aufklärung, verhält sich zu
ihren Objekten wie das Schicksal, dessen Begriff sie ausmerzt: als Liquidation. Unter der
nivellierenden Herrschaft des Abstrakten, die alles in der Natur zum Wiederholbaren macht, und der
Industrie, für die sie es zurichtet, wurden schließlich die Befreiten selbst zu jenem »Trupp«, den
Hegel[16] als das Resultat der Aufklärung bezeichnet hat.