Sahra Wagenknecht und das BSW: Gemeinsame Ausgangspunkte aber keine gemeinsame Basis für eine linke Position zum Krieg in der Ukraine

Helmuth, 02.09.2024

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Für den 03.10.24 wird von der Initiative „Nie wieder Krieg – Die Waffen nieder“ eine große Friedensdemo in Berlin geplant. Sahra Wagenknecht wird eine der Rednerinnen dort sein. Wagenknecht gehört zu den wenigen Personen, die mutig immer wieder die Notwendigkeit zu Friedensverhandlungen für die Ukraine betonen und damit viel Schmäh (und Aufmerksamkeit) durch die bundesdeutschen Medien erfahren hat. Da sie das schon zu einem Zeitpunkt getan hat, als solche Positionen zu massiven Diffamierungen führten, gehört ihr dafür vollen Respekt! Das ändert nichts daran, dass ihre Position (bzw. ab diesem Jahr auch die des BSW) politisch diskutiert werden muss. Im Folgenden werde ich die Position von Sahra Wagenknecht also erst zusammenfassen, soweit das auf Grundlage der meist mündlichen Diskussionsbeiträge möglich ist. Im zweiten Schritt werde ich dann argumentieren, dass sie für Kriegsgegner zwar sympathisch, aber als linke Position problematisch ist.

Ich denke, die Position des BSW und von Sahra Wagenknecht zum Ukrainekrieg lässt sich in 5 Thesen und zwei Schlussfolgerungen zusammenfassen: 

1) Der Krieg ist nicht von einer Seite zu gewinnen, deswegen macht seine Fortführung keinen Sinn.

2) Er fordert Opfer, deshalb ist er grausam und wegen 1) auch sinnlos.

3) Der Krieg schadet der Ukraine mehr als er ihr hilft, selbst wenn er, was kurzfristig nicht passieren wird, von ihr gewonnen werden würde, denn er führt zur Zerstörung des Bodens und einer massiven Verschuldung des Staates.

4) Der Krieg ist Folge einer falschen Diplomatie und einer fehlerhaften europäischen Sicherheitsarchitektur, die durch westliche (NATO-Osterweiterung) und die russische Regierung(en) (Stationierungen von Truppen in verschiedenen Ländern) zudem verletzt wurde.

5) Der Krieg bedingt eine Schädigung deutscher Interessen, sowohl ökonomisch und sozial, wobei diese Interessensschädigung durch das konkrete Verhalten der Ampelregierung noch verstärkt wird.

6) Deswegen sind Friedensverhandlungen zwischen den Kriegsparteien und Einbeziehung deutscher und europäischer Politiker der sofort anzustrebende Ausweg. Diese müssen im Ergebnis Sicherheitsgarantien für die Ukraine, Russland und Europa ergeben und die deutsche Politik sollte dafür eine führende Rolle einnehmen.

7) Aktuell ist es nicht die russische Regierung, die Friedensverhandlungen behindert, sondern die ukrainische. Um auf diese Druck auszuüben, sollten die Waffenlieferungen eingestellt werden.

Wie ist diese Position aus linker Sicht einzuschätzen? Neben Übereinstimmungen, z.B. in der Einschätzung der Lage und für die Entstehungsgeschichte des Krieges, gibt es vier kritische Punkte:

Der erste betrifft die zentrale Schlussfolgerung, Friedensverhandlungen sollten das primäre Ziel der politischen Intervention sein. Die stattdessen richtigere Forderung ist eine Beendigung des Krieges durch einen bedingungslosen Waffenstillstand. Hauptziel ist, das Sterben zu beenden und die Zerstörung der Lebensgrundlage vieler Menschen in der Ukraine und in deren Grenzgebieten. Friedensverhandlungen bedeuten hingegen, dass der Krieg weitergeführt wird, bis alle Bedingungen der Kriegsführenden erfüllt sind, von denen sie glauben, dass sie durchsetzbar sind. Dazu gehört auch eine Regelung der juristischen Verantwortlichkeit für den Krieg bzw. seine konkrete Gestaltung sowie eine Festlegung von Grenzen, zwei zentrale Punkte, die aus linker Sicht nicht verhandelbar sind. Die persönliche Verantwortung der Entscheidungspersonen für den Krieg und das konkrete Kriegsgeschehen ebensowenig, wie die Freiheit der Menschen zu entscheiden, innerhalb welcher Grenzen und in welcher Staatsform sie leben wollen (kapitalistisch, sozialistisch oder wie auch immer). Mit anderen Worten, ein Friedenschluss, der die Frage der Klärung von Verantwortlichkeiten für den Krieg und seinen Verlauf ausklammert, ist genausowenig akzeptabel, wie ein Diktat der Lebensverhältnisse der Menschen aufgrund von durchaus schwankenden völkerrechtlichen Zuschreibungen staatlicher Grenzen. Die Position von Wagenknecht und des BSW ist in dieser Hinsicht eine autoritäre Politik, die den möglichen Willen der Menschen ausklammert – nach nationaler Zugehörigkeit wie nach gesellschaftlicher Veränderung. Die aus einer linken Sicht richtige Reihenfolge ist deshalb: sofortiger Waffenstillstand jetzt (dafür bedarf es der Zustimmung der russischen und ukrainischen Regierung); juristische und wissenschaftliche Aufarbeitung des Krieges und seiner Geschichte (dafür bedarf es keiner Zustimmung der beiden Regierungen, die Beteiligung von Personen aus beiden Ländern an der Aufarbeitung wäre aber positiv); als Perspektive danach und nicht als Bedingung für den Waffenstillstand: freie Wahl der Zugehörigkeit zu einer der beiden Nationalgrenzen bzw. eines Unabhängigkeitsstatus durch die jeweiligen regionalen Bevölkerungsgruppen.

Zweitens gibt es zentrale Punkte, die nach Beginn eines Waffenstillstands realisiert werden sollten, die in der Argumentation von Wagenknecht aber keine Erwähnung finden: ein Drängen auf Amnestie für alle Flüchtlinge und KriegsdienstverweigererInnen, ein Drängen auf Auflösung aller paramilitärischen Einheiten und Gruppen, die schon bestehen und sich infolge der Kriegstraumatisierung durch traumatisierte Veteranen noch gründen könnten, und die Umverteilung des Grund und Bodens bei Annullierung aller seiner Verkäufe, die während der Kriegsjahre an ausländische Investoren getätigt wurden. Weiter ein Drängen, dass die Kosten für den aus dem Krieg resultierenden Schuldendienst keine Auswirkungen auf die Lebensbedingungen der Mehrheit der Bevölkerung haben.

Dies sind Minimalziele für eine soziale Weiterentwicklung in den beiden kriegsführenden Ländern, die im Mittelpunkt linken Denkens stehen müssen und die Fürsorge und Kooperation der Bevölkerungen betreffen. Eine solche Fürsorge und Kooperation sind die einzige Basis für einen dauerhaften Frieden, „nicht eine stabile Sicherheitsarchitektur (der Regierungen), die längerfristig auch Russland einschließen sollte“. Der Standpunkt Wagenknechts ist durchgängig einer von Regierungen, nicht von Menschen, die unter den Regierungssystemen leben und an ihnen leiden.

Der dritte kritische Punkt betrifft die Maßnahmen, die getroffen werden sollten, um einen Waffenstillstand bzw. Friedensverhandlungen zu erreichen. Hier ist eine Vorbemerkung notwendig: Während der militärisch-religiöse Konflikt im Gazastreifen und partiell auch an der libanesischen Grenze und im Westjordanland argumentativ erwähnt werden, werden andere Konflikte und Lebensverhältnisse komplett ausgeklammert. Z. B. der Konflikt im Sudan bzw. übergreifend auf den Südsudan. Oder der Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan und das unendliche Leid der Bevölkerung dort seit dem Rückzug. Bzw. die Situation der KurdInnen in Nordsyrien zwischen Resten des IS, der türkischen Armee und dem Assadregime. Das Statement: „Die Lösung von Konflikten mit militärischen Mitteln lehnen wir grundsätzlich ab“ hört sich staatstragend an, hat aber nichts mit linker Solidarität für die Bevölkerungen in Afghanistan und Nordsyrien zu tun.

Hinsichtlich des Ukrainekrieges fordert Wagenknecht, dass Waffenlieferungen dorthin eingestellt werden sollen (u.a., weil Friedensverhandlungen aktuell primär durch die ukrainische Regierung blockiert werden). Diese Forderung ist aus zwei Gründen problematisch. Am Anfang wäre es eine politische Option gewesen, insgesamt auf militärische Verteidigung zu verzichten und stattdessen auf eine Mobilisierung der Bevölkerung gegen die Besatzung durch die russischen Truppen zu setzen. Der Ausgang eines solchen Widerstandes wäre so ungewiss gewesen wie der des jetzigen militärischen. Er hätte aber sicher deutlich weniger Tote gefordert. Angesichts der aktuellen Situation ist diese Perspektive nicht mehr realistisch. Zweitens ist es keinesfalls hinreichend, nur auf die ukrainische Regierung Druck ausüben zu wollen. Der Krieg wurde von der russischen Regierung begonnen. Nur die Forderung, dass der Umfang der Waffenlieferungen und der wirtschaftlichen Boykottmaßnahmen es- oder deeskalierend daran gekoppelt werden, dass ein bedingungsloser Waffenstillstand von beiden Regierungen als oberstes Ziel akzeptiert wird, wird der aktuellen Situation gerecht.

Viertens ist die Position von Wagenknecht zum Krieg in der Ukraine nationalistisch im doppelten Sinne. „Unser Land verdient eine selbstbewusste Politik, die das Wohlergehen seiner Bürger in den Mittelpunkt stellt und von der Einsicht getragen ist, dass US-amerikanische Interessen sich von unseren Interessen teilweise erheblich unterscheiden. Unser Ziel ist ein eigenständiges Europa souveräner Demokratien in einer multipolaren Welt und keine neue Blockkonfrontation, in der Europa zwischen den USA und dem sich immer selbstbewusster formierenden neuen Machtblock um China und Russland zerrieben wird.“[1] Auch in diesen Formulierungen sind die wesentlichen Denkeinheiten Nationen und nicht Menschen in bestimmten Grenzen, die in unterschiedlichen Klassenverhältnissen leben. Dies unterscheidet das Programm des BSW von jedem linken Programm, welches als Minimum die ökonomische Gewalt erwähnt hätte, welche die deutsche kapitalistische Ökonomie nach innen und nach außen ausübt. Die idealisierende Orientierung an Nationen bewegt sich in den Kategorien funktionierender nationaler Hegemonien sowie ihrer Integration in Blockstrukturen, wie sie in den siebziger Jahren durch die Sozialdemokratie vertreten wurde. Sie verhindert damit eine zentrale Einsicht auf das, was zu erwarten ist: ein Implodieren staatlicher Strukturen in Russland und/oder der Ukraine – je nachdem, wie der Krieg weitergehen wird (und gerade auch, wenn er zu Ende ist, siehe die Weimarer Republik oder aktuell Syrien bzw. Libyen); und instabile politische Hegemonien in vielen Nationalstaaten, nicht nur in der wachsenden Zahl von „failed states“ der Peripherie. Nur der schnelle Aufbau entsprechender transnationaler linker politischer Organisationsstrukturen könnte diese furchterregende Perspektive etwas abmildern. Dieser ist aber kein erkennbarer Teil des Denkens von Wagenknecht und des BSW. Eine Fortführung des Kriegs in der Ukraine steht diesem Ziel diametral entgegen. Die dringende Notwendigkeit seiner Beendigung immer wieder zu propagieren, darin besteht eine hoch willkommene Einigkeit, der Dissens liegt in der Begründung und den Schritten dorthin.

 

[1] https://bsw-vg.de/wp-content/uploads/2024/01/BSW_Parteiprogramm.pdf