Mit Prof. (em.) Dr. Gerhard Kraiker
(jetzt mit ausführlichem Text unter "weiterlesen" und zwei Diskussionsbeiträgen, einem in der Rubrik Geschichte der Linken und einem im registriertem Mitgliederbereich, Rubrik Kapitalismus-Theorie)
Am Anfang der bürgerlichen Demokratiediskussion steht die Kernfrage: Wer übt mit welcher Legitimität die staatliche Souveränität aus? Wie kann sich der heterogene empirische Wille des Volkes vereinheitlichen, zu e i n e m Willen des Souveräns werden?
Rousseau z.B. wendet sich gegen Parteibildungen. Noch in der WR besteht die Hauptfrage, von Max Weber bis CvO: Wie kann sich unter den Bedingungen des Parteienstaates Autorität und Führung herausbilden, d.h. der politische Wille zur Einheit gelangen? (wie unter Bismarck und dem Kaiser)
Ganz rechts und ganz links galten die Parlamente nicht als öffentliche Räume, wo sich unterschiedliche Interessen und Ansichten präsentieren, sondern als „ Schwatzbuden“ der Nation, in denen unmaßgebliche Meinungen geäußert werden. Dahinter stand die Ahnung, dass die Parlamente nicht die souveränen Organe sind, als die sie einst gedacht waren. Die Ordnung der Gesellschaft, zentriert um das Privateigentum an Produktionsmitteln, ist den Parlamenten vorgegeben in den Festschreibungen der Verfassungen. Den Verfassungen nach sind die mehrheitlich gewählten Parlamente und Regierungen Souveräne, aber durch die Vorgaben sind sie in ihrem Handeln an die Interessen des Kapitals gefesselt. Wo sie die Fesseln ablegen wollen, hält ihnen ein oberstes Gericht ein Stoppschild entgegen. Einige der bürgerlichen Barrieren für die Parlamente sind gefallen (Wahlzensus, Parteienzulassung), jedoch geblieben ist die Hegemonie, die die Parlamentarier zu eingebundenen Repräsentanten macht (siehe Hessen).
Blütezeiten der Demokratien sind die nach Systemstürzen, nach der Beseitigung von Diktaturen (Westdeutschland, Griechenland, Portugal, Spanien). Im Lichte der Diktaturen ist auch das Wenige an demokratischen Elementen viel. Nach der Beseitigung der faschistischen Systeme kam überall hinzu, dass sich Demokratie und Massenproduktion verbanden (Fordismus)
Auf Seiten der Demokratie: politische Integration der Arbeiterklasse in die liberal-repräsentative Demokratie; Verzicht auf soziale Demokratie;
Idee der sozialen Demokratie: Relativierung der Funktionalität der liberal-repräsentativen Demokratie für bürgerliche Interessen. In ihr ist der Staat Friedensstifter, Kompensator der Defizite, die aus Marktgeschehen resultieren (Sozialstaatlichkeit). Seit den 70er Jahren entwickelte sich ein Gegentrend zur sozialen Demokratie im Neoliberalismus. Der Staat soll auf ursprüngliche Funktionen in der bürgerlichen Gesellschaft reduziert werden: Schutz der negativen Rechte (inzwischen auch Schutz der nationalen Grenzen vor Einwanderung der Armen).
Während die Formen der Demokratie für die Arbeiterbewegung das Rätesystem oder die soziale Demokratie waren, war die Form der bürgerlichen Demokratie stets die liberal-repräsentative. In das Repräsentativsystem ging die Prämisse, vom Fürstenstaat übernommen, ein, Repräsentanten seien die Eliten mit politischem Sachverstand. In der weiteren Entwicklung Reduktion der Demokratie auf Führungsauslese, durch Wahl der Personen des Vertrauens (Schumpeter). Demokratie wird von allen Inhalten befreit und zur Methode der Führungsauslese.
Der Rollbackfeldzug des Neoliberalismus beginnend mit Reagan und Thatcher war in mehrfacher Hinsicht erfolgreich, in den Köpfen ebenso wie in der praktischen Politik: einmal in Verbreitung der Überzeugung, dass alles Private allem Staatlichen vorzuziehen sei. Damit hat eine Ureinstellung des Nordamerikanischen weltweite Verbreitung gefunden (Selfmademann). Zwei Säulen der fordistischen Ära sind infrage gestellt worden: der Keynesianismus und wohlfahrtsstaatliche Kompensationen, des weiteren in Verbreitung der Überzeugung, dass der Freiheit des Marktes, vom Staat unbeeinflusst, parallel eine Restriktionspolitik geschaltet sein muss, die allen Zwängen auferlegt, die sich den Systemerfordernissen nicht fügen. Das reicht von der systemischen „Unvermeidbarkeit“ der Bankenrettungen bis zum Umgang mit Hartz IV-Empfängern. Hier kommt als Durchsetzungsmechanismus wieder die bürgerliche Hegemonie oder der sog. Konsens der Demokraten ins Spiel. Das Spiel läuft umso leichter, als nicht Massen in Schacht zu halten sind, sondern nur eine Minderzahl von Repräsentanten.
Der Herausbildung einer Postdemokratie kommen eine Reihe von Faktoren entgegen (meine Aufzählung bedeutet keine Gewichtung):
v in den postfaschistischen Ländern, schon bald auch in den poststalinistischen, scheinen die demokratischen Energien erschöpft;
v die Technokratiediskussion der 60er und 70er Jahre erneuert sich in der Praxis: zentrale Entscheidungen werden sog. Eliten überlassen. Damit wird, wie einst den Fürsten, Sachverstand per Amt und Orientierung am Allgemeininteresse zuerkannt. Damit ist der demokratische Auftrag der Amtsträger (z.B. der Finanzminister in der EU) nur noch so vermittelt präsent, dass er schlicht vergessen gemacht werden kann – zugunsten der Marktinteressen;
v Demokratische Entscheidungen gestalten sich langsam. Konsensbildungen unter Eliten vollziehen sich schneller und erscheinen damit den beschleunigten Erfordernissen von Krisenpolitik adäquater. Da hilft kein anderer Weg als der, auf der Entschleunigung zu insistieren.
v Ein wirkliches Problem besteht in der Zunahme der Komplexität von Politik. Die Menschen sind zwar im Durchschnitt gebildeter als früher, aber die Zunahme hält mit der Komplexitätszunahme nicht Schritt, denken Sie nur an die Finanzkrise, aber auch an Renten-,Gesundheits- und Bildungspolitik. Die bisherigen Demokratiemodelle der Linken gingen von der Gleichung Interesse gleich politisches Verhalten aus. Daraus resultieren Modelle wie die direkte Demokratie, das imperative Mandat, Rätesysteme. Elemente der direkten Demokratie werden inzwischen auch von bürgerlicher Seite mehr und mehr eingefordert, weil man den Repräsentanten zunehmend misstraut (Stuttgart 21, Bundespräsidentenwahlen) oder weil die Politik nicht mehr weiß, was das Volk will (Befragung der Mitglieder nach Listenreihe bei Grünen).
Was bedeutet nun „Postdemokratie“ für die Linke? Soweit sie in den bestehenden repräsentativen Demokratien die Realität erkennt, die Schumpeter zur Demokratietheorie schlechthin stilisiert hat: nämlich die Konkurrenzselektion der politischen Klasse um Macht, einer politischen Klasse, die sich mit gesellschaftlichen Eliten zum Systemerhalt liiert. Nur von denjenigen, die den Charakter der aus der Fürstenrepräsentanz hervorgegangenen bürgerlichen Repräsentanz durchschauen, ist Zugänglichkeit für demokratische Alternativen zu erwarten. Was können also solche Alternativen sein?
Zunächst sind die kleinen Alternativen zu unterstützen, die sich aus der bürgerlichen Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Repräsentanz ergeben und nach erweiterter Legitimation verlangen. Diese Diskussionspunkte habe ich schon genannt: Die Volkswahl des Bundespräsidenten (die beiden letzten sind das Werk Merkels), die Listenreihenfolge und damit die potentiellen Mandatsträger der Parteien, die Transparenz von Zukunftsentscheidungen (Stuttgart 21), die Transparenz staatlicher Institutionen (z.B. sog. Verfassungsschutzorgane, die Verfassungen eher unterminieren).
Bei alledem ist zu unterscheiden, wo es um staatliche Reduktionen im Sinne des Neoliberalismus geht, da verbindet sich fast immer die Forderung der Staatsreduktionen mit der nach Privatisierung gesellschaftlicher Aufgaben. Und wo es Bürgerlichen um mehr Bürgerkontrolle geht, in dem Bereich der Allgemeinheit, den die bürgerliche Klassengesellschaft als Idealbereich von sich abgesondert hat. Da hat die Linke, und das kann sie weiter tun, die hehren Ideale (Gleichheit, Gerechtigkeit, Freiheit) mit der schlechten Wirklichkeit zu konfrontieren.
Aber die direkt demokratischen Elemente sind noch kein alternatives Modell gegen die repräsentative Demokratie. Die Alternative wäre erst gegeben, wenn Individual- und Allgemeininteressen nicht mehr dauerhaft im Gegensatz stünden. Obwohl der alte Marx die Pariser Kommune mit ihren Räten als Modell pries, hat der junge Marx sehr wohl gewusst, dass die Entscheidung Aller über Alles die Versöhnung von Individual- und Allgemeininteressen nicht gewährleistet. Auch die „Alle“ können ihrem Individualinteresse folgen, und dann gilt als Entscheidungsmerkmal nur die quantitative Mehrheit. Historisch gesehen liegt das Richtige aber bei den Minderheiten (z.B. den Pazifisten in den Kriegen der Nationen). Was sich als demokratische Alternative anbietet, ist die deliberative, die auf Beratung von unten aufgebaute Demokratie. Die Beratenden können nicht mehr, wie einst die Räte, aus den Betrieben und Ämtern zusammenfinden, sondern aus Gemeinden und Stadtteilen, vielleicht sogar aus Nachbarschaften. Da kann sich jeder/jede einbringen, muss es aber nicht (s. Schweizer Plebizite mit 30% Quoten).