Dr. Carl Schultz (Texas)
Unbehagen über postmoderne linke Theorie
Wenn es zwei Aspekte gibt, die die postmoderne Linke am besten kennzeichnen, dann die Orientierung an repräsentativ-staatlicher Macht und (damit) die Aufgabe des Postulats des notwendig falschen Bewusstseins. Der Begriff des notwendig falschen Bewusstseins, bei Marx ursprünglich entwickelt, um zu demonstrieren wie im Bereich des Warentausches ein gesellschaftliches Verhältnis sich als dingliche Macht den Urhebern dieses gesellschaftlichen Verhältnis gegenüber darstellt, beansprucht, eine wirksame Unterscheidung zwischen der Erscheinungsform (dem sinnlichen Bewusstsein) und dem Wesen gesellschaftlicher Verhältnisse (ihrer vernunftgemäßen Rekonstruktion) annehmen zu dürfen. Die Erscheinungsform schafft ein ihr entsprechendes falsches Bewusstsein (volonté des tous) und dieses ist materiell wirksam genug, um die Menschen daran zu hindern, die Gesellschaft so einzurichten, wie es vernünftig und richtig wäre (volonté générale). Die moderne politische (nicht unbedingt ökonomische) Variante dieser Verdinglichung ist das „there is no alternative“, mit der Maßnahmen gegen menschliche Lebensverhältnisse exekutiert werden, die Leiden und Verarmung bedeuten, um im gleichzeitigen Atemszug jeden Zweifeln daran als geistig minderwertig dastehen zu lassen. Es ist dieses notwendig falsche Bewusstsein, das die britischen Konservativen im 19. Jahrhundert den Tod von Millionen Indern und Zehntausenden von Iren im Namen der Freiheit des Marktes demokratisch hat rechtfertigen lassen, und es ist heute die gleiche Logik, die ganz demokratisch für die Rettung der Hypo Real Estate 2008 über 100 Mrd. Euro locker macht und im gleichen Jahr die Anfrage der FAO auf 2 Mrd. Dollar für die Beseitigung der Hungersnot unbeantwortet lässt. Demokratie ohne Konstitution, d.h. ohne Einsicht in vernünftige Gestaltung der Gesellschaft und ihres Austausches mit der Natur, ist und bleibt damit unvollständig. Dies gilt auch bei Ausdehnung des Bürgerhaushaltes oder Direktwahl des Bundespräsidenten, soviel scheint mir jedenfalls sicher. Und es wäre hoffnungslos und unvernünftig, angesichts der vorhandenen spielerischen oder auch erzwungenen Mobilität der Menschen lokal gebundenen demokratischen Kleinststrukturen eine allgemein utopische Komponente zuzuschreiben. Auch wird sich Einsicht in die konstitutionellen Rahmenbedingungen einer vernünftigen Gesellschaft niemals im Kontext eines reinen bottom-up Prozesses entwickeln lassen, der nicht von einer entsprechenden allgemeinen Einsicht getrieben wird. Hierbei steht natürlich nicht in Frage, dass alle demokratischen Rechte und Möglichkeiten ein gesellschaftlicher Fortschritt sind, der von der Linken auch immer verteidigt wurde, soweit diese selber nicht in tragischer Weise diktatorisch staatliche Macht ausgeübt hat. Doch trotz dieser historisch bestehenden Schuld bleibt es für die linke Theorie und Praxis bei der Notwendigkeit eines Sprungs von der volonté des tous zur volonté générale, der als erkenntnistheoretische Notwendigkeit erstmals von Rousseau proklamiert wurde, und der, wenn er gesellschaftlich wirksam werden soll, auch ein praktischer werden muss (frei nach Marx: ein nichtgegenständliches Wesen ist ein Unwesen und die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an sie zu verändern.).
Voraussetzungsbedingungen für die Entstehung konstitutionellen Bewusstseins
Zu fragen ist in der Debatte um Repräsentation und Konstitution also nach zweierlei: den Entstehungsbedingungen für konstitutionelles Bewusstsein und dem utopischen Gehalt einer vernünftigen Gesellschaft. Nimmt man das Postulat ernst, dass die kapitalistische Gesellschaftsform notwendig falsches Bewusstsein über die Ursachen bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse und historischen Möglichkeiten schafft, dann folgt daraus, dass die erste Voraussetzung für die Entstehung konstitutionellen Bewusstsein eine Unterbrechung ist. Denn nur eine Unterbrechung, die radikal genug ist, um die sozial und individuell determinierte Sichtweise der Gesellschaft wenigstens zeitweilig aufzuheben, kann die Voraussetzung für die Einsicht in eine allgemein-menschliche Sichtweise zu schaffen. Und zweitens muss diese Unterbrechung eine Richtung haben und zwar eine solche, die gegen den „there is no alternative“ Fortschritt der Gesellschaft gerichtet ist und damit eine Art intellektuellen oder materiellen Freiraum konstituiert, indem sich die Vielfältigkeit der Individualitäten in einem geistigen Akt auf die konstitutionellen Rahmenbedingungen ihrer freien Entwicklung (und nicht nur der ihrigen, sondern auch der zukünftigen) einigen können. Insofern ist es kein Zufall, wenn die Möglichkeit der „Blockade“ im Mittelpunkt aktueller linker Strategiediskussion steht. „Blockade“ meint eine zeitweilige Stillstellung der scheinbar zwangsläufigen gesellschaftlichen Entwicklung, die Entwicklung einer Gegenmacht, die hinreichend ist, um die Übergriffe der staatlichen und ökonomischen Macht aufzuhalten, ohne dabei das Bestreben zu haben, die Macht zu übernehmen. Kant hat in seiner Theorie der bürgerlichen Gesellschaft neben die transzendentale Grundlage guten staatlichen Handelns (jedes Handeln sei so zu bestimmen, dass alle Bürger einer Gesellschaft ihm zustimmen würden) das Postulat der Öffentlichkeit und Transparenz („Publizität“) gestellt. „Blockade“, Allgemeinheit und Transparenz scheinen mir als drei Elemente genau die Eigenschaften zu sein, die die Handlungsschritte der postkommunistischen Linken charakterisieren: ob als blockierende und damit staatliche Macht aufhaltende Versammlung auf den Plätzen oder Straßen in Ägypten, Madrid oder Heiligendamm, ob als gesellschaftlicher Diskussionsprozess einer Verfassung in Ecuador oder ob als parallele Entwicklung sozialer und ökonomischer Kooperationsstrukturen in Venezuela, Griechenland oder in autonomen Zentren. Wollte man linke Intervention zu Beginn des 21. Jhdts algorithmisieren, so scheint BAOP ein treffendes Acronym: „Blockieren“, Avatarieren (spielerisches Deklinieren einer zünftigen Gesellschaft bei Abstraktion von der sozialen Interessenslage), Organisieren (von weiteren „Blockaden“ staatlicher und ökonomischer Macht (z.B. bei der Wohnungsräumung, beim Aufbau von Schlachthöfen der Massentierhaltung, bei der Ausübung von Macht in den Servicezentren der Bundesagentur für Arbeit, beim kapitalistischen Umgang mit der Natur und für den Aufbau von Alternativstrukturen gegenseitiger Hilfe usw.)) und Proklamieren (Veröffentlichung der transparent diskutierten und entschiedenen Grundstrukturen für eine bessere Gesellschaft). Sicher scheint jedenfalls, dass eine Diskussion im Rahmen von Enquete Kommissionen des Bundestages, so gut diese auch gemeint ist, keine dieser Entstehungsbedingungen erfüllt. Sicher ist auch, und hierin dürfte Konsens bestehen, dass in den nächsten Jahrzehnten sich kein homogenisiertes soziales gesellschaftliches Subjekt zeigen wird, das führender Träger dieses Prozesses sein könnte. Andererseits stellt diese letztere Annahme vielleicht auch den schematischsten und den faktisch falschen Teil der Marxschen Theorie dar, in dem geschichtlicher Fortschritt direkt mit doppelter Verelendung verkoppelt wurde. Übrig davon dürfte die Verankerung linker Politik in ökonomischer Analyse und einer Vision umfassender sozialer Gerechtigkeit bleiben, nicht aber die Bindung von richtiger Erkenntnis an eine spezifische gesellschaftliche Stellung wie sie von Lukács vertreten wurde. Und auch nicht die Schaffung eines „neuen Menschen“, wie er in der Geschichte der Linken immer wieder als Ergebnis des gesellschaftlichen Kampfes gefordert wurde. Zwar, und das belegen alle modernen biologischen Erkenntnisse, ist menschliches Verhalten in seiner Grundstruktur flexibel und Genexpression reagiert epigenetisch, d.h. auch über Generationen „vererblich“ auf soziale Bedingungen. Im Kantschen Sinne ist Konstitution aber nur an kalkulierende Vernunft gebunden, so dass selbst lauter „kleine Teufel“ dieser zustimmen würden, solange sie nur vernünftig sind.
Implodierende linke Utopie?
Luhmann hat einmal postuliert, dass in den säkularen Gesellschaft Sinn durch Verfahren entsteht und nicht mehr durch (fiktive) Bedeutungsträgern(wie die Idee eines Gottes). Analog dazu scheint sich die linke Utopie in das reine Postulat nach vermehrter, expressiver oder direkter Demokratie aufzulösen (siehe jetzt auch das neue Buch von Hardt/Negri). Implizit darin enthalten ist eine starke positive oder negative Orientierung an repräsentativ-staatlicher Macht. Diese wird entweder als entscheidender Ausgangspunkt für Veränderung definiert (Ziel sind „qualifizierte Mehrheitsentscheidungen“) oder als Herrschaftsform abgelehnt und soll dann in kommunitäre Strukturen aufgelöst werden (Hardt/Negri). Quasi naturgegeben scheinen sich die „Lager“ der postkommunistischen Linken oder Alternativen in diese beiden Perspektiven aufzulösen: als Suche nach Mehrheiten im Staat für mehr soziale Gerechtigkeit und als Ablehnung der existierenden Form der repräsentativen Demokratie ohne inhaltliche Alternative (Piratenpartei, Grillo Bewegung in Italien). Gleichzeitig wirken beide „Lager“ inhaltlich oder zeitlich beschränkt: die Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit stagniert bei unter 10 Prozent und die Piraten/Grillo Opposition zerfällt quasi notwendigerweise mit dem eigenen Erfolg. In dem Ursprungstext zu diesem Postskriptum wurde argumentiert, dass sich linke Utopie gerade wieder der Frage nach der Formulierung eines guten Lebens mit sozialer Gleichheit, individueller Freiheit, Reversibilität gesellschaftlicher Entscheidung (Forderung nach Gleichheit der Lebensbedingungen für verschiedener Generationen mit entsprechenden Konsequenzen im Umgang mit der Natur) und Ko-Evolution mit der Natur statt Naturbeherrschung stellen muss. Die Verwirklichung dieser Postulate wird die Rolle des Staates eindämmen und qualitativ neu definieren. Der Staat der bürgerlichen Gesellschaft, darin dürften sich eigentlich alle Staatstheoretiker einig sein, hat als wesentliche Aufgabe die Verteidigung nach außen und die Herstellung der öffentlichen Ruhe und Ordnung nach innen. Dieses war notwendig, um die qua Geburt zufällige Verteilung der Menschen in Klassen und in Nationen im Sinne der „Gewinner“ zu verteidigen und Ausbeutung innerhalb und über die Grenzen hinweg zu zementieren. Innerhalb einer vernünftigen Konstitution wird dieses Handeln nicht mehr notwendig sein: das zeigt z.B. ganz empirisch das Buch „Gleichheit ist Glück“ in seiner Feststellung, dass gesellschaftliche Gleichheit das Ausmaß an gesellschaftlicher Kriminalität und an körperlicher wie psychischer Krankheit reduziert.
Eine wachsende „Implosion“ des Staates bei zunehmend vernünftiger Konstitution der Gesellschaft zu postulieren, bedeutet nicht gleichzeitig eine Reduktion des „öffentlichen Sektors“, der gesellschaftlichen Produktion oder des „Commons“ anzunehmen. Wenn es eine geschichtliche Determinante gibt, die auch die Dekaden des Neoliberalismus nicht hat stoppen können, dann die wachsende Bedeutung der gesellschaftlichen Erstellung von allgemein gesellschaftlicher Subjektivität und Individualität. Mit anderen Worten wird der Anteil der gesellschaftlichen Arbeit, der zu Wiederherstellung allgemein-gesellschaftlicher Arbeit (von Wissen, Fähigkeiten, Gesundheit und grundlegenden Lebensbedingungen) angewendet wird, immer größer (und damit vornehmliches Ziel von Austeritätsprogrammen). Positiv gewendet heißt dies nichts anderes, als dass der Zufall der Geburt in einer Klasse und an einem Ort dieser Welt nicht mehr über die biographischen Möglichkeiten entscheidet, sondern die „Gesellschaft“ die Voraussetzungen für die Konstitution von Individualität selber in die Hand nimmt. Innerhalb einer vernünftigen Konstitution wird aber gerade dadurch der Zwang, demokratische Mehrheiten für seine Überzeugung zu „organisieren“, verloren gehen – weil einfach solche Entscheidungen nicht mehr das individuelle Glück und individuelle Entscheidungen im Kern betreffen können. Transparente Demokratie gehört zu den Kernelementen einer solchen Gesellschaft, verliert aber einen erheblichen Teil ihrer Bedeutsamkeit (weil keine antagonistischen mehr, sondern nur noch einfache Gegensätze vorhanden sind). Anders ausgedrückt: Individualität und gesellschaftliche Verfasstheit wären kein so arger Widerspruch mehr.
"Rien faire comme une bête", schrieb Adorno 1945 als Bestimmung der Utopie, "auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, „sein, sonst nichts, ohne alle Bestimmung und Erfüllung“, könnte an Stelle von Prozess, Tun, Erfüllen treten und so wahrhaft das Versprechen der dialektischen Logik einlösen, in ihren Ursprung einzumünden.“ Dieser Zustand mag zwar bedeuten, dass Menschen mit sich zufrieden sind (wenn sie denn wollen - sie wären innerhalb dieser Konstitution auch frei, den ganzen Tag zu arbeiten), er bedeutet aber auch, dass das Prinzip des eisernen Fortschritts, welches mit der bürgerlichen Gesellschaft auf diesen Planeten kam und andauerndes Leiden bei Tieren und Menschen bedeutete, durch ein neues, eben nicht nur menschliches „Maß“ ersetzt wird, welches individuelle Freiheit mit gesellschaftlicher und natürlicher Sicherheit über Generationen verbindet.