Regulationsformen der kapitalistischen Produktion und dominante Subjektivitätsformen: Versuch einer assoziativen Annäherung

(geschrieben und eingestellt von Helmuth)

 

Innerhalb der marxistischen Theorie beginnt die Diskussion über das Verhältnis zwischen objektiver Struktur (ökonomischen Verhältnissen) und entsprechender Subjektivitätsform mit dem Begriff der Charaktermaske. Dieser hat eine doppelte Bedeutung, je nach gesellschaftlicher Position, ist inhaltlich eigentlich nur als idealtypischer Endpunkt definiert, weil im Kontext der Beschreibung der wahrscheinlichen idealtypischen Entwicklung der Gesellschaft eingeführt. Dabei für die Arbeiterklasse gekennzeichnet durch doppelte Freiheit. Dabei weitgehende Aufhebung aller lokalen und regionalen Besonderheiten. Gleichförmigkeit der gesellschaftlichen Erfahrung, dadurch erhöhte internationale Solidarität. Größere kollektive Kommunikation durch Erfahrung der Fabrik. Aber auch weitgehende subjektive Verelendung durch Erfahrung der Entfremdung in der Arbeit und durch Phasen der Arbeitslosigkeit (Überakkumulationskrisen)

Charaktermaske definiert damit eine gesellschaftlich bedingte Subjektstruktur, die als Rahmenbedingung für die Ausprägung der individuellen Besonderheiten von Bedeutung ist. Es gibt sozusagen eine gesellschaftliche Rahmenprägung, die bestimmte Besonderungen ausschließt (und andere zulässt). Speziell ist hier der Entfremdungsbegriff von den eigenen historisch und regional variierenden Fähigkeiten (und Einschränkungen) von besonderer Bedeutung, so dass es zu einer Homogenisierung der Individualitäten kommt.

 

Unter der Erfahrung einer wachsenden ökonomischen Krisenhaftigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung ohne gleichzeitige Entwicklung von entsprechender Subjektivität wurde von der Kritischen Theorie, speziell von Erich Fromm und Adorno eine nähere Spezifizierung des Begriffs der Charaktermaske vorgenommen. „Die Theorie, wie die Ideologien aus dem Zusammenwirken von seelischem Triebapparat und sozialökonomischen Bedingungen entstehen, wird dabei ein besonders wichtiges Stück sein.“ (1932, S.54). Fromm prägte den Begriff des „Sozialcharakters“ bzw. „Gesellschaftscharakters“, der im Unterschied zum „Individualcharakter“ nur eine Auswahl von Eigenschaften umfasse, nämlich jene Eigenschaften, die durch die gemeinsame Lebensweise und Grunderlebnisse, durch die gesellschaftstypischen Erwartungen, durch die Anforderungen an ein angepasstes Verhalten bzw. durch die Unterdrückung von abweichendem Verhalten vermittelt werden. Der Sozialcharakter eines Menschen wird insofern nicht nur durch die Arbeitserfahrung sondern auch in der Familie geformt. Zur Erklärung des Zurückbleibens des subjektiven Bewusstseins gegenüber der objektiven ökonomischen Entwicklung, der Orientierung der Bevölkerung in Richtung rechter Ideologien wurde das Konstrukt der autoritären Persönlichkeit entwickelt. Diese war einerseits in den familiären Strukturen verankert, andererseits auch in der spezifischen Form der tayloristischen Produktion mit einem Schwergewicht an autoritärer Firmenleitung, mit hohen Ansprüchen an die Durchsetzung an Disziplin gegenüber die Arbeiter, die objektiv durch die Bedeutung der Notwendigkeit der Synchronisierung von Arbeitsprozessen ohne komplette Mechanisierung und andererseits durch die Bedeutung von Sparsamkeit und Ressourcenschonung in der Produktion erzwungen wurde. Ein wesentlicher Bestandteil dieser gesellschaftlichen Konstellation bestand darin, dass der Familienvater als einziger Ernährer auftritt und damit auch die Unterordnung aller Personen der Familie unter seine Priorisierung erzwingen kann. Mitglieder der Familie bekommen Zugang zu Reproduktionsmitteln nur über den Familienvater, der damit eine Herrschaftsposition gegenüber der Ehefrau besitzt. Dem autoritären Charakter entsprach in der Psychopathologie eine starke Beschäftigung mit dem Konzept der Neurose, die ein Scheitern des Individuums an den (gesellschaftlichen) Über-Ich Ansprüchen angesichts der gegebenen „biologischen“ Triebhaftigkeit ausdrücke, eine Dynamik, die sich schon im noch funktionierenden autoritären Charakter gegenüber Minderheiten auslebt.

 

In der fordistischen Phase der Produktion entwickelte sich der Begriff des autoritären Charakters in der kritischen Theorie weiter zum Begriff der repressiven Entsublimierung. Diese kennzeichnet eine Aufgabe der Absicherung von Konformität durch Entwicklung starker Über-Ich Strukturen, die als Verinnerlichung der autoritären Verhältnisse in  der Fabrik und in der Familie zu sehen sind. An die Stelle der autoritär durchgesetzten Ordnung als Synchronisierung von Arbeitsprozessen tritt die komplette Enteignung an Souveränität über den Arbeitsprozess. Das Fließband stellt die soziale Organisation des Arbeitsprozesses her, eine individuelle Anpassung ist nur noch im Sinne des Aushaltens der sinnentleerten Einzelhandlungen erfordert. Auch im Bereich des Reproduktionsprozesses wird die Konformität durch einfache Anpassung an die Vorgaben der Konsumindustrie erreicht, die annähernd totale Kontrolle über das Verhalten der Menschen gewinnt. Im Reproduktionsbereich löst sich der dominante Weg über den Familienvater auf, sozialer Lohn tritt neben Individuallohn, Frauen werden zunehmend erwerbstätig. Sublimierung als Charakterbildung und Entsagung sind nicht mehr notwendig um die kapitalistische Produktionsweise aufrechtzuerhalten, weil die Maschine die Arbeitsprozesse diktiert und sich gleichzeitig die Machtbasis des Familienvaters aufzulösen beginnt. Sublimierung wird repressiv aufgelöst, weil es keinen wirklichen Gegenpol (d.h. der Ich-Autonomie) zur gesellschaftlichen Unterdrückung mehr gibt. Dem Konzept der repressiven Entsublimierung korrespondiert auch eine Veränderung der Psychopathologie. Nicht mehr in inneren Konflikten wird die Basis von psychischen Problemen gesehen, sondern in falsch verlaufenen Lernprozessen: Verhaltenstherapie beginnt die Psychoanalyse als Theorie abzulösen, Individualität wird als komplett machbar betrachtet, Schwerpunkt der Behandlungen bildet mehr und mehr Angststörungen, besonders aber auch sozial unangepasstes Verhalten bis hin zur Schizophrenie (Labeling approach, Rollentheorie der psychischen Krankheit).

 

Zum Ende des fordistischen Zeitalters beginnt sich der Produktionsprozess zumindest in den meisten Industrieländer deutlich zu wandeln. An die Stelle der Massenproduktion treten Dienstleistungssektoren unterschiedlichster Qualität. Damit verschwindet die objektive Produktionsvorgabe für die Arbeit mit Ausnahme eines permanenten ökonomischen Drucks, der in verschiedenen Formen den Arbeitern rückgemeldet wird. Der eigentliche technische Produktivitätszuwachs im Bereich des Dienstleistungssektors ist gering, höhere Produktivität ist nur durch intensive Ausbeutung zu erreichen. Zudem verändern sich die Produktionsziele häufig, sind weich definiert und keiner äußeren Kontrolle zugänglich. Qualitätssicherung statt Quantitätssteigerung definiert die Produktion im Dienstleistungssektor (siehe Diagramm im Anhang zu Produktivitätszuwachs, das zeigt, dass dieser im Dienstleistungssektor kaum existiert bei gleichzeitig wachsender Bedeutung für die gesellschaftliche Gesamtproduktion, was die Mehrwertrate deutlich senkt). Arbeitsprozesse werden zunehmend wieder sozial, d.h. vollziehen sich in der Interaktion zwischen bzw. mit Personen, nicht mehr in der Interaktion mit der Maschine oder dem Werkstoff (siehe die Konzentration der psychischen Auffälligkeiten in den entsprechenden Dienstleistungssektoren. Dabei sind offensichtlich die unteren Einkommensgruppen von Depression besonders betroffen, bleiben aber nicht besonders lang krank, die oberen von Burnout mit wohl auch längerer AU). Sie setzen zudem häufig ein Zurechtkommen im Team voraus, mit Pseudohierarchien und Nichthierarchien. Bewertung der individuellen Arbeit ist weitgehend willkürlich und direkt auf die Person gerichtet, weil es kein objektivierbares Arbeitsprodukt gibt (außer ökonomischen Zahlen, die aber nur indirekt als Arbeitsziel definiert werden. Tendenz der Erfahrung von Lohndrückerei als einzige „Anerkennung“ von Arbeit). Subjektiv erfolgende motivationale Integration in den Arbeitsprozess wird wesentlich, mit der Wirkung, dass „Scheitern“ am Arbeitsprozess als subjektives Scheitern erlebt wird und selten unmittelbar und direkt deutlich wird (langer Prozess des „Nicht-Mitkommens“). Andererseits werden andere „Löcher“ der Aneignung von Lebensarbeitszeit durch wachsende Hürden in Richtung Frührente gestopft (siehe die wachsende Zahl von Frührenten aufgrund von psychischen Krankheiten bzw. auch die wachsende Zahl von AU Tagen mit wachsendem Lebensalter).

Als Sozialcharakter Flexibilität, individuelle Karriereplanung, geringe Solidarität und zunehmende Bindungslosigkeit gegenüber familiären oder anderen kollektiven Formen der Reproduktion.

Dominante Form der Psychopathologie sind Burn-out und Depression als Formen der Selbstbestrafung gegenüber dem Nichterfüllen der Arbeitsnorm, der erlebten Ungerechtigkeit und Entsolidarisierung (Mobbing). Gleichzeitig stehen diese Verarbeitungsformen vermutlich der Entwicklung von aktivem Widerstand entgegen – sie sind passive Aneignung von Lebenszeit gegenüber Lohnarbeitzeit, aber ermöglichen nicht kollektive Erfahrungen.

 

Mögliche Fragen

Was steht hinter der wachsenden Inzidenz an Depression und Anpassungsstörung als gesellschaftliche Entwicklung?

Haben Arbeitsverweigerung, psychische Verelendung, neue Labeling Etiquette „Burn-out“ eine reale politische Bedeutung oder stellen sie nur individuelle Fluchtformen dar?

Warum kommt es zu dieser Selbstwahrnehmung in der Gesellschaft?

Zeigen sich in dieser Selbstwahrnehmung Gerechtigkeits- und Ungerechtigkeitserfahrungen, an die anzuknüpfen wäre? Oder entspricht dieser Selbsterfahrung nur ein Opferstatus?

Gibt es eine Generalisierbarkeit von Depressionserfahrung und –auslösung über die unterschiedlichen gesellschaftlichen Produktionsbereiche (ist das Burn-Out eines beamteten Lehres mit der Depression einer alleinerziehenden Hartz IV Empfängerin in gesellschaftlichen Strukturdeterminanten vergleichbar)?

Gibt es so etwas wie einen Sozialcharakter, dem Depression, Burn-Out praktisch als Negativ entspricht (Neurose und autoritärer Charakter verhalten sich zueinander wie Burn-out/Depression und xx)?

Verelendung wurde in der Vergangenheit meist als physisch-biologischer Zustand definiert (Armut und Armutsgrenze, Berufskrankheiten, erhöhte Mortalität). Könnte es sein, dass mit einer Veränderung der Produktionsweise wir Verelendung als psychische Auszerrung definieren müssen, der keine körperliche Auszerrung entspricht?

Welches wären dann die produktiven politischen Begriffe, die solche Form der Verelendung intellektuell nachvollziehbar werden lassen und zur politische Aufklärung und Organisierung beitragen könnten?


Die therapeutische Perspektive:
Die therap. Arbeit mit Menschen mit Depressionen und Arbeitsplatzproblemen gestaltet sich in den letzten Jahren schwieriger. Dabei steht die Anpassung an neue Gegebenheiten (Veränderungen am Arbeitsplatz, Existenzsorgen, Rechtsstreitigkeiten) zunehmend mehr im Vordergrund. Depressionen + Ängste können dabei nur noch auf ein erträgliches Maß reduziert werden. Beschleunigung/Wertewandel schlagen hier zu und lassen therap. Theorie und Praxis auseinander klaffen. Die Psychotherapie mit depressiven Menschen, die keine aktuellen Arbeitsplatzprobleme haben, verläuft dagegen eher in vertrauten Bahnen und ist erfolgreicher.

Aus dieser Perspektive versuche ich eine Verbindung zu dem obigen Text herzustellen: Die Beschreibungen der Veränderungen kann ich teilen (auch wenn ich die Produktivität im Dienstleistungsgewerbe sehr viel höher geschätzt hatte - es fehlen halt die Maschinen).
Depressionen erfasse ich eher als Kontrollverlust/Hilflosigkeit - weniger als Selbstbestrafung.
Bezogen auf den Widerstand (im pol. Sinn) glaube ich, dass durch die Individualisierung der Arbeit und durch die Betonung der Selbstverantwortlichkeit eine kollektive Sicht erschwert ist und erst neu "angeeignet" werden muss.
Die anschließenden Fragen fand ich gut (aber zu viele) und hier halte ich eine vorherige An/Abgleichung für sinnvoll.