Theoretischer Aufriss der Veranstaltungsreihe

Das Verhältnis der politischen Theoriebildung zum Begriff der Subjektivität gleicht dem von Buridans Esel zum Futter: hingezogen durch die alternativlose Notwendigkeit, dass es ohne das „Subjekt“ nicht gehe, abgestoßen durch seine Nicht-Fassbarkeit in wissenschaftliche Termini. So bildete die Verzweiflung gegenüber den offensichtlich irrationalen Entscheidungen der Subjekte für eine nationalsozialistische Lösung der ökonomischen Krise der Weimarer Republik einen wesentlichen Ausgangspunkt der Kritischen Theorie: Ursache sei der „autoritäre Charakter“, der sich durch die Sozialisation in der Familie herausbildet, der verhindert, dass rein ökonomische oder sozialwissenschaftliche Analysen die realen Geschehnisse begreiflich machen könnten. Nur einige Dekaden später hatte und hat der Begriff des „Charakters“, der auf die Eigenständigkeit des Individuums gegenüber seiner konkreten sozialen Umgebung verweist (im Guten wie im Schlechten), seine erklärende Bedeutung aber bereits verloren. Menschen mit einem Charakter, der mehr ausmacht als bloße „Flexibilität“, sind heute eher verdächtig oder einfach „merkwürdig“, als dass sie Vorbildfunktion hätten. Stattdessen stehen „branding“, „liking“ und „self-streaming“ im Mittelpunkt der Darstellung des Ichs. Werbung, ursprünglich als Anpreisung von Waren entwickelt, die niemand wirklich braucht und die – soviel war zumindest garantiert – auch nicht lange halten werden, hat die Selbst-Bildung und Selbstverwirklichung eingeholt und diese damit quasi zur bloßen Gestaltung einer äußersten Hülle regrediert, nahe bei dem, was man in der Natur Verpuppung nennt. An die Stelle der inneren Verhärtung als Charakter ist das äußere „Branding“ als bloße Darstellung getreten.

Wird der Charakter womöglich zur bloßen Form eines auf einen einzigen Punkt geschmolzenen Ichs, das als einziges Prinzip nur noch die Optimierung seines Layouts akzeptieren darf? Ausgestattet lediglich mit der inneren Gewissheit, dem beworbenen Produkt insoweit ähnlich zu sein, als dass falsches „branding“, „liking“ und „self-streaming“ mit der Gefahr der Nichtberücksichtigung beim nächsten Auswahlverfahren der Personalabteilung verbunden sein kann oder im schlimmsten Fall mit der andauernden Verfolgung durch einen der vielen Geheimdienste. Lebenslang angepasstes „mainstream branding“ gewinnt dort sekundäre Rationalität, wo digital vermittelte soziale Interaktion ein Vergessen nicht mehr kennt. Eingefroren in den Webseiten und Archiven der großen Internetsuchmaschinen wird jede gewollte und ungewollte subjektive Entäußerung scheinbar auf Ewigkeit konserviert. Das gilt, wie die letzte Facebook-Enthüllung zeigt, nicht nur für die faktisch „gepostete“ Meinung, sondern selbst für das, was einem zweiten Lesen nicht standhielt und aus der Eingabemaske vor dem Hochladen wieder gelöscht wurde. 

Dabei enthält die Reduktion des Charakters auf ein flexibles Ich durchaus Momente einer wirklichen Befreiung von Armut, sozialer Stellung und sozialer Kontrolle. Denn das Internet als wesentlich(st)er Ort sozialer Interaktion „dekonstruiert“ realiter vorgefertigte Subjektivität und eröffnet für den Einzelnen einen Spielraum für unterschiedliche Subjektivitäten, die sich unter jeweils neuen Namen in frei gewählten und beendeten Diskursen, platonischen Austauschen oder kooperativen Programmierungsprojekten immer wieder neu konstituieren (können). Das Internet erfüllt damit den alten Traum der barocken Maskenbälle, durch Verdeckung der eigenen Identität diese frei wechseln und gestalten und damit den repressiven Formvorgaben der ständischen Gesellschaft zumindest zeitweilig entfliehen zu können. Mit dieser Option ist es, wenn auch nur platonisch, die Erfüllung der alten Utopie, alle gesellschaftliche Arbeitsteilung aufzuheben, indem es ermöglicht, „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“ (Karl Marx). Entfremdung könnte ihre Aufhebung dort finden, wo sie als notwendige Konstante menschlichen Seins zur spielerischen Entäußerung wird und dadurch die Herrschaft der Verdinglichung über das Subjekt aufhebt.

Voraussetzung für diese utopische Nutzung des Internets sind aber erstens stabile und soziale Verhältnisse in der Welt der realen Herstellung von Gebrauchsgütern sowie zweitens eine materiell durchgesetzte und abgesicherte Anonymität im Internet und ein freier, d.h. unentgeltlicher Zugang zu seinen Inhalten. Nur wenn die reale Welt den „Wissenskommunismus“ des Internets zumindest insoweit spiegelt, dass sie die privatwirtschaftliche und staatliche Aneignung der in ihm vorhandenen Daten verunmöglicht und allen Benutzern eine weitgehende Gleichheit und Freiheit in ihrer realen Lebensgestaltung garantiert, kann das mit ihm verbundene Glücksversprechen mehr als eine bloße Schimäre sein. Komplett fluide soziale Umwelten ohne entsprechende ökonomische Sicherheit und gesicherte Anonymität könnten sich zudem mit dem gebetsmühlenartig gepriesenen Postulat reiben, doch souverän einen eigenen Lebensplan realisieren zu sollen. Eine kapitalistische Ökonomie, eine dazu passende Kultur der Maximierung von konsumtiven Events und eine sich durch Ausdifferenzierung in immer „zeitgierigere“ Teilsysteme“ stetig beschleunigende Gesellschaft stellen jedenfalls keine passende Umgebung für die Herausbildung frei wechselbarer, aber in sich stabiler Identitäten dar.


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